Gemeinderatsprotokoll vom 15. Dezember 1922

wurde. Es ist wohl ein sehr seltener und vereinzelter Fall, daß der oberste Beamte einer autonomen Körperschaft mit so schweren Verdachtsmomenten belastet wurde, wie es hier der Fall ist. Ueber die Dinge zu entscheiden ist nicht unsere Aus¬ gabe, sondern die des Gerichtes. Gleichzeitig mit der Ver¬ wahrungshaft wurde das Disziplinarverfahren verhängt; dieses ruht jedoch, bis das Gericht entschieden hat. Wird zur Kenntnis genommen. Weiters teilt der Herr Vorsitzende den Einlauf von zwei Anfragen der GR. Aigner und Dr. Furrer mit, welche lauten: „Ist dem Herrn Bürgermeister bekannt, daß das Bauamt für Mistkübelreparaturen enorme Rechnungen (enthaltend einen Regiezuschlag von 96 Prozent) an die Hausbesitzer herausgegeben hat, daß die Reparaturen ohne vorheriges Einvernehmen mit den Hausbesitzern durchgeführt wurden und in einer großen Zahl von Fällen über das nötige Maß Kosten berechnet wurden, obwohl fast alle Reparaturen teils unnötig, teils in der natür¬ lichen Benützung der Kübel begründet sind, und was gedenkt der Herr Bürgermeister zu tun, um die Bevölkerung vor der¬ artigen Willkürakten des Bauamtes zu schützen? Ich kann nur sagen, daß ich versucht habe, noch heute abends eine Verbindung mit dem Bauamte zu erhalten, welche jedoch nicht gelang; die Interpellation kann ich erst in der nächsten Sitzung beantworten Eine zweite Anfrage der gleichen Herren Gemeinderäte, welche lautet: „Ist dem Herrn Bürgermeister bekannt, daß auf dem Volksplatze Herrichtungsarbeiten unternommen und unter Verwendung städtischer Arbeiter und Transportmittel das Wasser der Leitung zu den Fürsorgehäusern entzogen wurde, so daß diese des nötigen Wasserbedarfes durch mehrere Tage entbehrten; und was gedenkt der Herr Bürgermeister zu tun um die Bewohner der Fürsorgehäuser in Zukunst vor solchen Maßnahmen zu schützen und hat der Herr Bürgermeister alles vorgekehrt, daß die Gemeinde für die Verwendung ihrer Arbeiter und Transportmittel vollständig schadlos gehalten wird? kann ich ebenfalls aus dem gleichen Grunde nicht beantworten Ich weiß nur, daß die Fürsorgehäuser nicht von der städtischen Wasserleitung, sondern vom Koburgbrunnen gespeist werden. Die näheren Aufklärungen werden sich durch die Beantwortung der Anfrage in der nächsten Sitzung ergeben. Seitens der vierten Sektion liegt ein Dringlichkeitsantrag vor, welcher lautet: Dringlichkeitsantrag der vierten Sektion. Auf Grund von vielen Aufrufen an die Bevölkerung von Steyr und Umgebung, insbesondere an die Holzproduzenten der Umgebung und der Holzhändler von Steyr, sich an der Holz¬ aktion für arme Leute zu beteiligen, find von Seite eines Holz¬ produzenten und einigen Holzhändlern von Steyr zirka 45 Kubik¬ meter Holz und zirka 1000 Kilogramm Kohle, von sonstigen Spendern ein Betrag von zirka 1,000000 eingelangt Leider reicht dieses Quantum nicht aus, alle jene Parteien zu beteilen, die sich um Brennmaterial gemeldet haben. Es würden zirka 125 Kubikmeter Holz benötigt werden, um je einer Partei einviertel Kubikmeter Holz zuzuteilen Damit die Holzaktion nur im kleinen Umfange durchgeführt werden kann, wäre noch ein Betrag von mindestens 5,000 000 Kronen notwendig. Aus diesem Anlasse ersucht die vierte Sektion den ver¬ ehrlichen Gemeinderat, zu diesem Zwecke die notwendigen Mitteln zur Verfügung zu stellen. Der Gemeinderat wolle daher beschließen, der Holzaktion zur Anschaffung von Brennmaterial einen Betrag bis zu 5,000.000, des weiteren 2,000000 Kronen zur Unterstützung der ausgesteuerten, in Steyr wohnhaften Arbeitslosen. Der Berichterstatter: Dedic. Zur Dringlichkeit des Antrages erteilt der Herr Vorsitzende dem Herrn Vizebürgermeister Dedic das Wort: Herr Vizebürgermeister Dedic führt aus: Der strenge Winter macht es uns zur Pflicht, daß wir für die armen, erwerbsunfähigen Leute, sowie auch für die ausge¬ steuerten Arbeitslosen etwas unternehmen müssen. Die Sache ist deshalb dringend, weil man nicht recht verlangen kann, daß diese Armen während der Weihnachtsfeiertage, wo andere Leute Freuden genießen, an diesen Tagen frieren müssen. Es ist des halb notwendig, daß sich der Gemeinderat damit beschäftigt, welche Mittel und Wege zu suchen sind, um wenigstens den Leuten Brennmaterial, welches trotz der mehrfachen Aufrufe in zu geringer Menge gespendet wurde und auch Geldunterstützungen zukommen zu lassen; ich bitte, dem Antrage die Dringlichkeit zuzuerkennen GR. Professor Brand: „Namens der Minorität habe ich die Erklärung abzugeben, daß wir für die Dringlichkeit stimmen werden und bedauern, daß diese Aktion von der Oeffentlichkeit so außerordentlich schlecht bedacht ist" Der Gemeinderat stimmt der dringlichen Behandlung des Antrages zu. Zum Antrage selbst führt Herr Vizebürgermeister Dedic aus: Ueber Veranlassung des Bundeskanzlers Dr Seipel wurde von Seiten der Regierung an sämtliche Bezirkshauptmann¬ schaften ein Aufruf zur Bildung von Komitees gerichtet, um in der kommenden Winterszeit eine Aktion: „Holz und Kohlen für die Armen“, einzuleiten. Auch in Steyr wurde ein aus allen drei Parteien zusammengesetztes Komitee gebildet, welches die nötigen Vorarbeiten vorgenommen hat. Auf Grund von Auf¬ rufen haben sich 470 Parteien um Beteilung mit Holz ge¬ meldet, wozu noch 34 Familien ausgesteuerter Arbeitsloser kommen; letztere haben schon seit Monaten keine Unterstützung mehr und kann man sich das Elend dieser Familien vorstellen; es gilt daher, auch diesen Armen unter die Arme zu greifen. Um nun diesen rund 500 Parteien wenigstens einviertel Meter Holz geben zu können, benötigt das Komitee 125 Meter Holz, welcher Bedarf durch freiwillige Spenden bei weitem nicht ge¬ deckt erscheint, so daß die vierte Sektion sich zur Einbringung des Dringlichkeitsantrages entschließen mußte. Derselbe soll jedoch nicht ausdrücken, daß es daß die Aufgabe der Gemeinde sei, Arbeitslosenunterstützung zu geben, sondern dies Sache des Staates ist. Trotzdem bitte ich auch um Zustimmung, daß für diese Zwecke zwei Millionen Kronen zur Verfügung gestellt werden; wie ich auch um Annahme des ganzen Dringlichkeits¬ antrages ersuche. Der Dringlichkeitsantrag wird vom Gemeinderat ohne Wechselrede einstimmig angenommen. Sodann tritt der Gemeinderat in die Tagesordnung über. Erste Sektion. 1. Beitragsleistung zur Arbeitslosenunterstützung. Referent Herr GR. Reisinger Wie bekannt sein dürfte, befaßt sich das Ministerium für soziale Fürsorge mit der Frage der Arbeitslosenfürsorge und will der Bund die Leistungen zu dieser Versicherung auf die Gemeinden überwälzen, wie er sich in letzter Zeit überhaupt mit dem Abbau der Arbeitslosenunterstützung befaßt Es liegt eine statistische Tabelle und ein Amtsbericht vor; letzterer wird vom Referenten verlesen. Die erste Sektion hat sich mit der Sache eingehend be¬ schäftigt und stellt den Antrag: „Der Gemeinderat beschließe, mit Rücksicht auf die ungeklärten finanziellen Verhältnisse der Gemeinde kann die gesetzliche Festlegung einer Beitragsleistung durch die Gemeinde zur Arbeitslosenunterstützung keinesfalls empfohlen werden, ganz abgesehen davon, daß eine derartige Festlegung eine einseitige Belastung der Industriegemeinden bedeuten würde; ebenso wird Stellung genommen gegen die gesetzliche Festlegung eines Beitrages der Gemeinde zu den Ver¬ waltungskosten der Arbeitslosenämter“. Herr Vizebürgermeister Mayrhofer erinnert daran, daß zu dieser Frage im Parlamente Stellung genommen werde, um bezüglich der ausgesteuerten Arbeitslosen einen gesetzlichen Schutz zu schaffen. Aus dem vorliegenden Gesetzentwurf geht hervor, daß sich der Staat von allen Leistungen für die Arbeits¬ losen losmachen und alle Lasten den Gemeinden aufhalsen will. Wenn man unsere heutige finanzielle Lage der Gemeinde be¬ trachtet — und so geht es allen übrigen Gemeinden — so weiß ich nicht, wie sich diese gestalten soll; wenn der Gemeinde wiederum neue Lasten auferlegt werden und wie dieser Staat aufgebaut werden soll, ist ein Rätsel. Der Gemeinderat muß energisch dagegen Stellung nehmen, daß der Staat hier seine Pflicht, während der wirtschaftlichen Krise alles zu tun, um diese Leute nicht zum Aeußersten zu bringen, erfüllt Tausende von Menschen haben nicht einmal so viel, daß sie sich das Stück Brot kaufen können, und um den elenden Bettel von 10.000 Kronen kann sich der ausgesteuerte Familienerhalter nicht ein¬ mal das trockene Brot für sich und seine Kinder verschaffen. Die Regierung muß die entsprechende Vorsorge treffen. GR. Klement spricht im gleichen Sinne und macht besonders auf die Schärfe der in den Kreisen der Arbeitslosen herrschende Krise warnend aufmerksam Die Gemeinde darf kein Mittel unversucht lassen, um auf die Regierung einen entsprechen¬ den Druck auszuüben. Hier ist rasches Eingreifen notwendig. Es müssen auch die Vertreter der bürgerlichen Parteien in ihren Kreisen dahin wirken, daß den Arbeitslosen unbedingt geholfen werde. Herr GR Frühwald unterstützt die Ausführungen der beiden Vorredner und ersucht das Präsidium, gelegentlich der Anwesenheit des Ministers Schmitz demselben die wirkliche Lage in Steyr nachdrücklichst vor Augen zu führen. Herr GR. Professor Brand erklärt, aus dem Grund das Wort zu ergreifen, damit ein Schweigen der Minorität nicht als Gleichgültigkeit gegenüber den obschwebenden Fragen von der Oeffentlichkeit aufgefaßt werde. Die Minorität hat auch für den Dringlichkeitsantrag gestimmt und habe ich heute öffentlich das Bedauern ausgesprochen, daß die Holzaktion so gering mit Spenden bedacht wurde. Namens der Minorität gebe ich die Erklärung ab, daß die Frage der Arbeitslosenunterstützung auch von uns die größte Förderung erfahren wird. Sodann wird der Sektionsantrag einstimmig angenommen. Herr Vorsitzender bemerkt, daß von Seite des Präsidiums alles unternommen werde, um das Ministerium auf die schwierige Lage aufmerksam zu machen und Abhilfe zu verlangen. Z 29 594.

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