Die oberösterreichische Messerindustrie

115 Bei der Fabrikation handelt es sich demnach um eine dezentralisierte Herstellung durch rechtlich selbständige Hausgewerbetreibende in deren eigenen Werkstätten und mit deren eigenen Betriebs- mitteln, wobei jedoch die Rohmaterialbeschaffung, Arbeitseinteilung, Überwachung und Kontrolle der Produktion ebenso wie der Vertrieb der Erzeugnisse, demnach die gesamte organisatorische und kauf- männische Leitung in den Händen des Fabrikanten, oder, anders ausgedrückt, des Verlegers kon- zentriert sind. Die wirtschaftliche Leistung des Verlegers besteht also in einer planvollen in einer Hand vereinigten Produktions- und Vertriebsorganisation, unter Einsatz des notwendigen Kapitals und Übernahme sämtlicher mit der Herstellung und dem Absatz verbundener Risken vor den Augenblick an, an dem die Auftragserteilung für die Materialien und Weitergabe derselben an die Heimarbeiter erfolgte. Vielfach kommt es vor, dass sich die "Fabrikanten" auf die Herstellung einiger weniger Artikel spe- zialisieren und zur Vervollständigung ihres Sortiments die fehlenden Schneidwaren von anderen Solin- ger Fabrikanten beziehen und als Handelsware führen. Hier übernimmt der Fabrikant zusätzlich die Funktion eines Großhändlers. Die Vorteile der "Fabrikation" liegen insbesonders in der größeren Beweglichkeit und Elastizität des hausindustriellen Betriebssystems. Die verhältnismäßig leichte Regulierbarkeit dar Art und des Umfan- ges der Produktion durch Einschränkung oder Vermehrung der Aufträge an die Heimarbeiterschaft, sowie die Möglichkeit, die Fabrikation ohne besondere Mehrkosten jederzeit auf gangbare und ge- suchtere Artikel oder Modell umzustellen zu können, bedeutet für den Verlagsbetrieb auch eine rasche Anpassungsfähigkeit an die jeweilige Wirtschaftslage und trägt viel zur größeren Krisenfestigkeit dieser Unternehmungen bei. Allerdings wird auch der Verleger oder Fabrikant immer bestrebt sein müssen, wenigstens einige Hausgewerbetreibende selbst in Zeiten verringerter Nachfrage mit Aufträgen zu ver- sehen und gegebenenfalls auf Vorrat arbeiten zu lassen, um den wertvollen Kontakt mit seinen Heim- arbeitern nicht zu verlieren. Im Gegensatz zur Fabrikation, dem Produktionsvorgang mit Hilfe selbständiger Heimarbeiter, be- zeichnet man als "Fabrik" in der Solinger Schneidwarenindustrie ein Unternehmen, in dessen eigenen Fabriksräumen die Herstellung von Schneidwaren durch arbeitsrechtlich gebundene Arbeiter bei Durchführung innerbetrieblicher Arbeitsteilung und möglichst weitgehender Verwendung vonMaschi- nen zentralisiert vorgenommen wird. Da bis in die jüngste Zeit bei der Messererzeugung noch bedeu- tende Arbeitsvorgänge zur Erreichung besonderer Qualität mit der Hand ausgeführt werden mussten, so die manuelle Handhabung des Schleifens und Polierens, so ist wahrscheinlich darin der Grund zu suchen, dass es in Solingen relativ wenige Fabriksbetriebe im Sinne, obiger Definition gibt, in denen sämtliche Teilarbeiten von der "schwarzen Ware" bis zum Fertigerzeugnis in fabrikseigenen Werksräu- men ausschließlich durch die in festen Dienstverhältnis stehenden Arbeiter vorgenommen werden. Selbst ein so bedeutender Fabriksbetrieb wie die weltbekannte Firma J. A. Henckels, die gegenwär- tig wohl 2.000 Arbeitnehmer beschäftigt, vergibt noch immer an eine große Zahl von Heimarbeitern gewisse Spezial- und Teilarbeiten, die besondere Sorgfalt und manuelle Kunstfertigkeit erfordern. Die betriebliche Organisationsform steht im engen Zusammenhang mit der Produktionstechnik der Solinger Industrie und ist nicht nur von historischem und rein betriebswirtschaftlichem Interesse, son- dern bedeutet vielmehr ein sehr aktuelles Problem der Gegenwart. Die Frage: individuelle, vorherrschend handwerkliche Qualitätsarbeit — oder verbilligte Massen- produktion, unter Beschränkung auf eine geringe Anzahl von Typen und Sorten, ist nach wie vor offen und entscheidungsträchtig. Der Vorwurf der Veralterung und Rückständigkeit der traditionellen Solinger Herstellungsmetho- den beim Vergleich mit den Produktionsvorgängen in ausländischen Konkurrenzindustrien wird aller- dings von denen entschieden zurückgewiesen, die behaupten, dass Solingen sich nur dort behaupten kann, wo die Firmen erstklassige Qualitätsarbeit auf den Markt bringen. Um einen Begriff von der Vielfältigkeit und Verschiedenartigkeit der Solinger Schneidwarenferti- gung zu geben, sei erwähnt, dass es früher allein in Rasiermessern 2.000Muster gab. Auch das Angebot der einzelnen Firmen gestaltete sich mitunter außerordentlich reichhaltig. So gab es eine Firma, die 8 - 10.000 Muster in ihrer Gesamtkollektion zählte. Diese Mannigfaltigkeit des Warenangebotes, der oft übermäßige Musterreichtum und die Be- rücksichtigung mitunter ausgefallener Wünsche der Kunden bedeuten eine große Belastung für die

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