Zwanglose Blätter, Nr. 51, vom 9. September 1848

216 dem — nach der Erklärung des Ministeriums gesetzgeben¬ den — Reichstag? Die dritte Frage ist von zu persönlichem Inte¬ resse für das Ministerium, als daß man es nur versuchen könnte, in deren Beantwortung ihm vorzugreifen. Die ersten beiden Fragen aber, die Ereignisse, von denen sie hervorgerufen wurden, und deren Nachwirkung ihre Beantwortung jetzt so schwer, so unheilvoll=folgenreich macht, sind nur ein neuer Beweis wohin das eigensinnige Beharren des Reichstages auf einem Wege, den zu betre¬ ten er nicht berufen war, führt. Borrosch bemerkt ganz richtig „der constituirende Reichstag kann nicht aufgelöst, er kann nur von oben oder von unten gesprengt werden.“ Was hat der Reichstag nach oben gethan? Durch die diktatorische Gewalt, deren er sich anmaßt — sagen wir es mit einem Worte — hat er den Kaiser faktisch abge¬ setzt, und will ihn erst unter Bedingungen, die der Kai¬ ser bedingungslos erfüllen muß, wieder aufnehmen! Was hat der Reichstag nach unten gethan? Er hal durch fanatische Reden den Bauernstand der ruhig und hoffnungsreich der Entwickelung seiner neuen besseren Lage entgegen sah, allarmirt, hat durch die ausgesprochene Auf¬ hebung des Unterthansverbandes, während die Entschädi¬ gungsfrage in der Schwebe blieb, die aufgeregten Schoo߬ kinder selbst nicht befriedigt, durch die in Aussicht gestellte Entschädigung von Seite des Staates aber den Bürger¬ stand beunruhigt, der mit Recht fürchtet, den Bauer mit schwer verdientem Gelde von Lasten mitloskaufen zu müssen, ohne für sich irgend einen Vortheil dabei in Aus¬ sicht zu haben. Wäre es denn zu wundern, wenn in ir¬ gend einem Staate unter gleichen Verhältnissen oben oder unten die Lust entstünde einen Reichstag, der alles eher thut als das wozu er berufen ist, zu sprengen! Der Reichstag wird aber ruhig, schleunig und ge¬ liebt und geehrt von dem Volke und dem Monarchen, die ihn beriefen, sein Werk zu Ende bringen können wenn er sich folgende Wahrheiten gewissenhaft gegenwärtig hält: 1. Der Kaiser hat die vollziehende Gewalt in die Hände seiner Minister gegeben und jede ihrer Verfügun¬ gen für provisorische bis Errichtung der neuen Staats¬ verfassung erklärt. 2. Der gegenwärtige Reichstag hat keine gesetzge¬ bende Gewalt. Er beräth das Grundgesetz des Staates das Resultat seiner Berathungen gilt für den legal aus gesprochenen Willen des Volkes. Dieses Resultat ist die Grundlage des Verfassungsvertrages den der Reichstag im Namen des Volkes mit dem Monarchen abzuschließen berechtiget ist. 3. Das Volk dürstet nach einer neuen definitiven Organisirung des Staates, nach neuen definitiven Ge¬ setzen jeder Gattung — alles dieses kann dem Volke nur werden durch einen auf Grundlage der Verfassung ge¬ wählten gesetzgebenden Reichstag. 4. Es existirt für den Kaiser eine moralische Noth¬ wendigkeit, dem wohlerwogenen, klar und ruhig auf lega¬ lem Wege ausgesprochenen Willen des Volkes nicht ent¬ gegen zu treten. 5. Wir leben im Jahre des Heiles 1848. Aler. Jul. Schindler. Die Schattirungen der Reaktion. Ohne Reibung könnte die Welt nicht bestehen, die Sonne und die Sterne fielen aus ihren Bahnen, der Erd¬ ball bräche in Stücke, Aecker, Weinberge, Forst und Au mit Schloß und Dorf flögen in die Leere wie Spreu, der Vogel fiele aus der Luft, das Rad von der Achse, der Arm vom Rumpf — es gäbe nirgends einen Halt. Ohne Reaktion gibt es kein politisches Leben. Wir haben gegenwärtig in unserem Vaterlande viel politisches Leben, folglich keinen Mangel an Reaktion — oder umge¬ kehrt. Bei uns bezeichnet man aber mit dem Worte Re¬ aktion, das Bestreben jener Leute, welche sich den alten oder wenigstens einen dem alten Zustande der Dinge höchst ähnlichen zurückzuführen bestreben. Wir zählen gegenwärtig verschiedene Reaktionen: Eine Reaktion des Hofes oder der Camarilla, eine des Militärs, eine der Bureaukratie, eine der Aristokratie, eine der Geistlichkeit, eine des Slavismus — und die unbe¬ wußte Reaktion der Ultras, die aber eigentlich nicht hieher gehört. Die Reaktion der Camarilla will den Staat zu einer Casse und einen Lustpark für den Hof, das Militär will ihn zu einer fetten Weide und zu einem luftigen Manöv¬ rir=Platz, die Bureaukratie will ihn zu dem, was er vor dem 15. März d. J. war, machen. Die Aristokratie möchte die frühere Stellung der Bureaukratie für sich gewinnen, die Geistlichkeit trachtet unter dem Namen einer Tren¬ nung der Kirche vom Staate einen Staat im Staate neu und fest zu gründen, der Slavismus untergräbt den Auf¬ schwung und die Einigung Deutschlands und schwört un¬ ter Slavas und Zivios zur schwarzgelben Fahne um so lieber, da er wohl weiß, daß das sogenannte starke Oe¬ sterreich ewig wie ein Bleigewicht in den Flügeln des deut¬ schen Adlers hängen wird. Hiemit sind aber alle Schattirungen der Reaktion noch bei weitem nicht erschöpft, z. B. fehlt noch die Reak¬ tion der Zweifler an der Nothwendigkeit der demokratischen Monarchie. Sie reagiren, weil sie nicht glauben wollen, daß das Volk einigen Antheil nehme, an den von der Presse so laut ausgesprochenen Forderungen, die Monarchie müßte, wenn sie Bestand haben und beglücken soll, auf demokrati¬ schen Grundlagen gebaut sein. Dieß sind die Männer, welche sich einbilden, daß jene angebliche Theilnahme des Volkes nur in den Köpfen einzelner Revolutionäre oder Schriftsteller und Hitzköpfe, wie man sie zu bezeichnen beliebt, spucke und das, was man öffentliche Meinung nennt, nur ein künstlich hervorgebrachtes Produkt einer schlau von den Anhängern des Liberalismus erzeugten Aufregung sei, durch welche besonnene Staatsmänner sich nicht irre machen lassen dürf¬ ten. Einer solchen Ansicht aber liegt eine schlimme Selbst¬

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