Steyrer Wochenblatt, Juni 1945, Blatt 1

Steyret ernsten Wertung der geistlichen seelsorgerlichen Arbeit Daß unsere Priester auch der Hilfe bedürfen, ist offen kund. Bei der schweren Lage aber, in der sich die Gesamtbevölkerung befindet, wollen wir keine Bevor¬ ugung genießen. Ich habe darum veranlaßt, daß alle für die Zuweisung in Betracht kommenden Geistlichen sich mit der Zuteilung für Arbeiter begnügen.“ Die Hilfsaktion für Steyr. Ein Vertreter des Gemeindeamtes hatte an Montag eine Unterredung mit dem sowjet=russischer Stadtkommandanten von Steyr. Er hörte sich die Ausführungen unseres Vertreters aufmerksam an, der ihm die Ernährungslage des Gebietes Steyr schilderte Leutnant Ignatow, der die Unterredung in Ver¬ tretung des Stadtkommandanten führte, stellte uns einfach die Frage: „Welche Lebensmittel sind zur Versorgung der Bevölkerung vorhanden?“ Unser Vertreter erklärte ihm, daß die Lebensmittellage ernst ist und die vorhandenen Vorräte noch für einen Mo¬ nat, bei einigen bis zwei Monate ausreichen werden Leutnant Ignatow versicherte uns, daß diese Lebens mittel unbedingt für die Bevölkerung sichergestell werden, und bei eventuellen Plünderungsversuchen ofort die Kommandantur zu verständigen ist, die dann unmittelbar eingreifen wird. Bei einer neuerlichen Unterredung versicherte uns der Stadtkommandant, daß in den nächsten Ta gen auch für Steyr mit der Hilfsaktion begonnen wird Verwalten oder wirtschaften? Bald wird der organisatorische Aufbau unserer Wirtschaft vollendet sein. Wir werden wieder funk¬ tionierende Innungen, Verbände mit Ortsgruppen haben, wir werden wieder Kammern haben, die Gewerbebehörden werden wieder Entscheidungen fällen, die Ministerien werden wieder mit all ihren Sektionen ausgestattet sein, jeder Gewerbetreibende und Kaufmann wird wieder seine Steuer bezahlen können, weil auch diese Aemter wieder ihre Arbeit aufnehmen werden Die Geschäfte sind aber zum größten Teil geschlossen. Die Lebensmittelgeschäfte sind leer, die Handwerker können nicht arbeiten, weil in aller Geschäften irgend etwas zur Wiederaufnahme des Betriebes fehlt. Die Verkehrsmittel, die ein Produkt zum Verbraucher bringen sollen, fehlen. wo der Mit einem Wort: Ueberall dort, Erzeuger, wo der Verbraucher ist, wo Wirtschaf —eine gähnende Leere. ist Wenn es schon in den Jahren 1918 bis 1938 ein Fehler war, zu glauben, daß der bürokratische Apparat die Wirtschaft befruchten könne, so ist es in der Gegenwart ein Wahnsinn, zu glauben, daß durch diesen Apparat die Wirtschaft in Gang ge¬ bracht und das Leben der Bevölkerung gesichert werden könne Wir brauchen Nahrung, wir brauchen Kleidung, wir brauchen Schuhe, wir brauchen Reparaturen am Türschloß, am Wasserhahn, wir müssen elektrische Leitungen flicken lassen, das heißt, wir brauchen den Aufbau der untersten Elemente der Wirtschaft. Vielleicht hat der konzessionierte Elektriker in olge seiner Haft seine Konzession verloren, vielleicht konnte er das Gesuch nicht schreiben, nicht befür Seite 3 Wochenblatt worten lassen, vielleicht ist es von der Einlaufstelle noch nicht zum Referenten gelangt, noch nicht er¬ ledigt, vielleicht die Erledigung noch nicht zugestellt Aber er wird und muß die zerrissene Leitung flicken und helfen, wo er kann, auch ohne konzessionierte Urkunde. Wir brauchen Die Initiative jedes Einzelnen. Jeder Handwerker, jeder Geschäftsmann muß sich in die Wirtschaft einschalten und beginnen, mit deu ihm Verfügung stehenden Mitteln das Wirtschafts¬ zur leber wieder in Gang zu bringen. Auf jeden einzelnen kommt es an. Wir brauchen Die Masseninitiative. Geschäftsleute der gleichen Branche, Handwerker der gleichen oder ähnlichen Art, Bewohner eines bestimmten Gebietes müssen sich zusammenschließen, um einen Betrieb, eine Werkstatt, ein Verkehrsmittel in Gang zu brin¬ was für den einzelnen unmöglich wäre gen, Wir brauchen: Die Kontrolle durch die gesamte Be¬ völkerung. Ueberall müssen sich die Massen mit Vorschlägen und Kritik einschalten, um die Durch¬ führung der Maßnahmen zu überwachen, die zur Aufrichtung der Wirtschaft notwendig sind. Man muß sich auf den Boden der Tat¬ sachen stellen, und wenn diese Tatsachen auch noch so hart und unbequem sind. In vielen Dingen müssen wir zum einfachsten, zum elementarsten zu¬ rückkehren. Wenn man dringend Benzin benötigt, nützt keine Rechnung, man benötige so und so viel Benzin, um dies oder jenes durchzuführen: man muß eben andere Mittel finden und sei es der Eimer, sei es der Handkarren. Der Handwerker, der Gewerbetreibende, der kleine Geschäftsmann kann unter solchen Umständen meistens mehr vollbringen als große Plänemacher und ein. bürokratischer Apparat. Nicht das Verwalten ist heute die Hauptsache denn Trümmer kann man nicht verwalten. Die Hauptsache ist die Weckung und die Förderung der Einzel= und Masseninitiative. Wir müssen Wien wir müssen Oesterreich aufbauen. Man kann nur von unten nach oben bauen. Bei jedem Bau wird zuerst das Fundament gelegt, dann der Bau in die Höhe geführt und am Schluß das entsprechende Dach daraufgesetzt. Ein „Mauthäusener“ berichtet: Erschütternde Mitteilungen über das Todeslager. In einer Versammlung der Sozialistischen Partei Döblings (Wien, der auch zahlreiche Gäste der Kommunistischen Partei und der Österreichischen Volkspartei beiwohnten, hielt Dr. Alfred Migsch, der erst vor wenigen Tagen aus dem K2 Mauthauser heimgekehrt war, einen sehr instruktiven Vortrag Zum erstenmal wurden genaue Ziffern aus der Statistik dieses Mordlagers bekannt. Der Lagerstand vermehrte sich von 1939 bis 1945 von 3000 auf 80.000 Menschen. Das Lager aber starb jährlich drei¬ bis viermal zur Gänze aus. Insgesamt gingen 240.000 Menschen durch das Lager, von dener 150.000 verstarben. Die Hälfte der Verstorbenen

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