Stephan Willner - Annalen der Stadt Steyr 1839-1882

77 Schon seit mehreren Wochen herrscht, nachdem auch das einzige schlechte Silbergeld, nämlich die Sechserl, ganz verschwunden sind, sogar an Kupfermünzen eine solche Not, dass man überall schuldig bleiben muss und einige Fabrikanten ihren Arbeitern Billette als Scheidemünze geben. Unsere Gemeindevorstehung hat den löblichen Entschluss gefasst, das seit vielen Jahren ganz vernachlässigte, ja verwüstete und in einem gräulichen Zustande befindliche Stadtarchiv, das zuletzt noch bei den Amtsübergaben und Organisierungsversuchen anno 1850 und 1854 förmlich geplündert wor- den ist, gehörig aufzuräumen, zu ordnen und mit entsprechenden Reperto- rien zu versehen, und hat dieses Geschäft unserm Dichter und Zeitungsredak- teur Hausleithner, einem Söldnerssohn von Christkindl, gegen eine monatli- che Remuneration von 30 fl. übertragen. Bei der Feier des kaiserlichen Geburtsfestes am 18. August sind vom Bürger- korps bloß 22 Mann und 3 Offiziere aufgezogen, und ohne Neuorganisierung mit anderen Uniformen wird dieses alte Institut wohl bald gänzlich verschwinden. Nachdembereits 7 Gemeinderäte durch Tod und Austritt in Abgang gekom- men sind und bei dem leider immer noch fortdauernden Staats-Provisorien auch nicht durch eine ordentliche Wahl ersetzt werden konnten, so hat endlich jetzt unsere Gemeindevorstehung dem hohen Ministerium 30 vertrauenswür- dige Bürger und andere Geschäftstreibende zur Auswahl und Ernennung der fehlenden 7 Gemeinderäte vorgeschlagen, welche auch erfolgte. Die politische Situation ist ganz trostlos, denn während in Italien die päpstli- chen Staaten und das Königreich Neapel bereits aufgehört haben, eigene Reiche zu bilden und das neue Italien imVereinmit der Revolution unser Venetien täglich anzugreifen droht, daher unsere dortige Armee auf dem Kriegsfuß gehalten wer- den muss, ist das Zerwürfnis im Innern grenzenlos. Ungarn, welches sich seine frühere Verfassung vom Jahre 1848 errang, droht sich als Folge der Annahme des Reichsrats-Majoritäts-Votums vom Reich bis auf eine schwache Personalunion loszureißen, die kaiserlichen Wappen werden von den ungarischen Ämtern her- abgerissen, die deutschen Beamten müssen auswandern, bei den Komitats-Ver- sammlungen wird die Steuerverweigerung beschlossen, usw., während in den übrigen Kronländern mittelalterliche ständische Landesstatute, die alte Bürokra- tie und Bevormundung eingeführt werden sollen. Dies sind die traurigen Folgen des kaiserlichen Diploms vom 20. Oktober, welches freisinnige Institutionen ver- hieß, das aber die amRuder befindliche Adelspartei mit demMinister Grafen Go- luchowsky zu lauter Separatzwecken missbraucht, daher allgemeines Misstrauen

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