Steyrer Tagebuch Nummer 23, November 1984

24~ die unerklärliche faszination von dachlandschaften, zerbröckelnde kami ne und moosmosa i ke, über denen am abend die schwa l ben turnen. wenn unter grünspani gen dachrinnen unter zentimeterdickem putz die ziegel erscheinen, auf tauchen wie aus vor igen jahrhunderten, verwundert, erstaunt, in die abendsonne blinzeln. die firstziegelreihen sind ein rückgrat dem zärtlichen abendhi mme 1 wie die schwa 1benf 1üge l den wo 1kenscha ren. das ist jul i, das ist august, das ist weltweit, das ist so, und so hat a l l es seine ordnung. manchmal sind nachtfalter größer als segelgleiter, und sie gehen vor dem hintergrund eines sanftfarbigen zwanziguhr– dreißighimmel sauf moosigfeuchten ziegelbunt gefleck– ten dächern spazieren. aus rundbogi gen fens terhöh 1en mit holzkreuzen & unsymmetrischen entlüftungsöffnungen dringt stimmloses flüstern & ge 1äch ter wie sch 1agen von insectenflügeln und rattern frischer spinnenfäden, die sich klebrig ihren platz ins dämmrige muster reißen. dann werden die fasrigen wolkenfetzen dunkler ' bewegen sich schneller und vereinzelt beginnen große tropfen zufallen, überziehen beton & ziegel mit einem netz klarer punkte, unergründlicher tiefen, ungeahnter abgründe, oder: planloser, feuchtfröhlicher sommer– sprossen auch. wie auf alten fotos : herren im frack stehen braun– stichig und schnauzbärtig um den kleinen schachtisch, und vorhänge im hintergrund setzen sich in endlos durchbro chenen spitzen und mustern fort & fort , ...... sommerwiesen werden gemäht oder auch nicht, so duften auch heuhaufen oder nicht, & immer wieder die insec– ten, stechmücken abends bevorzugt, und mottenähnliches getier, entweder weitbogig gespannte musik flutet zwischen hügeln & bäumen hervor oder nicht, und manch– mal spiegeln kleine teiche & weiher zwischen pappeln und weidengesträuch. an deren anderen ufer setzen sich die wiesen fort, heuhaufen & so l ehe von mau 1würfen, wühlmäusen. über randlich fernen hügelketten steigen wi 1denten auf, verdec k en äste & stämme den himmel, bilden den horizont. die sonne geht heute nicht unter, so fliegen die raben & falken ins unendliche, fliegen immer & immer weiter , la ssen schmetterl inge & hirsch– käfer zurück, pferdebremsen & schnaken, gefl Ugel te freunde & ko l 1egen. ~angsamvergraute fassaden müssen farbe bekennen, er– halten bunt zurück, erstrah 1en wie gotische gl asfen– ster südfranz ös ischer dorfkirchen an schwerelosen sommerv ormi t tagen. dort wachsen auch die wilden s ta– che 1beeren, sehr kleine früchte an sehr großen sträu– chern, in trockenen wi esenhängen zwi sehen wuchernden rosensträuchern, voller intensivem geschmack & dichter süße, sommergerei ftes aroma 1anger tage, unzähliger schafherden die vorbeigezogen, ein tier nach dem ande– ren, und aus der ferne wie weidende felsblöcke wir– kend , kalk. langsamverblichene fassadenfronten müssen farbe bekennen, gewinnen bunt zurück, wie tautropfen im frUhlicht, walderdbeeren im morgendlichen nebel– sch 1ei er, regenbogenfore 11 en in kalten gebi rgsbächen, glühwürmchen in warmen augustnächten an gebüschumsäum– ten waldrändern vorgebirgiger hügelkuppe~ heute regnet es, bäche & flüsse sind schwanger von end 1os fa 11 enden tropfenschnüren, schwe 11 en an und werden a 11 mächtig , gebären töchter & söhne und über– ziehen mit ihnen das 1and, setzen a l gen & tang auf äste & schornsteine, beheimaten ihre fische in leeren autos & wohnkküchen, quartieren wasserfl öhe & schwim– mkäfer in waschbecken, erdkel lern & zahnarztpraxen ein. sie sorgen gut für ihre freunde & untermi eter, ihre 1i ebe ist das p1ätschern der we 11 en und das leise riese 1n der sandigen sch 1amms. über der wasserfl äche schweben 1ibel len & bienen, sie haben ihre grünseide– nen schirme aufgespannt und freuen sich des interkon– tinentalen sonnenschei ns. 1.8.84 oliver schmitsberger

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