Stand und Ständeordnung im Weltbild des Mittelalters

- 99 - ein ideologisches Schattenspiel geschichtlicher Interessenkonstella– tionen, nämlich die Lehren von den himmlischen Rangordnungen, die sich im irdischen Ständeaufbau spiegeln; von der gottgewollten Solidarität aller Menschen in dem irdischen Reiche, das dem Gottes– reiche den Weg bereiten soll; von der göttlichen Vorsehung, die jeden Menschen in dem Stande geboren werden läßt, in dem er am besten dem Gesellschaftsganzen dienen kann und daher nach Gottes Willen verbleiben soll. Die Lehren von den himmlischen Hierarchien, von der unaufhebbaren und gestuften Solidarität aller Menschen und von der persönlichen göttlichen Vorsehung sind als substantiale Bestandteile des christlichen Offenbarungsglaubens von überzeitlicher Geltung und werden nach der christlichen Über– zeugung von der gottgewirkten Lebenskraft des Offenbarungs– glaubens allen sozialgeschichtlichen Wechsel überdauern. Aber die christlichen Lehren sind nicht vor einer manchmal fragwürdigen Modifizierung und Anwendung zur Rechtfertigung irdisch-sozialer Zustände und Ziele geschützt. Und abgesehen von solchen der Rein– heit des christlichen Credo abträglichen Anpassungen bleibt immer in Kraft der allgemeine historische Perspektivismus, der auch die christlichen Glaubensgegenstände von den wechselnden historisch– sozialen Standorten aus in verschiedenen Perspektiven sichtbar werden läßt, ohne daß solche perspektivischen Wandlungen immer als Verzerrungen der Wahrheit aufgefaßt werden dürften. Ohne Zweifel ist durch die historisch-sozialen Wandlungen seit dem Mittelalter vor allem der christliche Vorsehungsglaube in eine schwere Krise geraten, die es dem Christen sehr erschwert, seinen Glauben an die persönliche göttliche Vorsehung in Einklang zu bringen mit einer sozialen Umwelt und Entwicklung, die der Würde und Freiheit der Person und der Auswirkung ihrer für das Gesell– schaftsganze besten individuellen Fähigkeiten wenig Raum gibt und auch in einer leistungsgemeinschaftlichen Sozialordnung geben wird . Die neuzeitliche Entfaltung des Individualitätsgedankens bewirkt im gläubigen Bewußtsein auch eine Intensivierung des Glaubens an eine individuelle göttliche Vorsehung. Wie aber ein so gesteigerter Vorsehungsglaube in Einklang sein kann mit den von uns zunehmend erkannten unvermeidlichen sozialen Zwängen - das bleibt vorerst eines der schwersten sozialtheologischen Probleme . Nikolaus Monzel

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