Stand und Ständeordnung im Weltbild des Mittelalters

- 98 - für das menschliche Geistesleben sprechen. Damit ist gesagt, daß nicht alle Gehalte des menschlichen Geisteslebens, wohl aber die Ausbreitung neuer, von schöpferischen Minderheiten originär er– faßter geistiger Gehalte, also nicht ihre Gültigkeit, wohl aber das Maß ihrer faktischen Geltung stets abhängig ist von ihrer mehr oder weniger großen Konformität mit den jeweiligen ökonomisch– sozialen Verhältnissen und Interessen. Seheier, dessen Schleusen– vergleich auch Schwer einmal in der vorliegenden Schrift anwendet, verdanken wir die bisher umfassendste und geistvollste Theorie des Zusammenwirkens der von ihm so genannten „Ideal-" und „Realfaktoren" in der Geschichte 1 • Aber seine Redeweise von der „Schleusenwirkung" der „Realfaktoren" ist doch unzulänglich und leicht ins Gegenteil zu wenden. So hat Max Weber 2 einmal an einer bisher für diese geschichtsphilosophische Problematik nicht aus– gewerteten Stelle die Ideen der religiösen Weltanschauungen be– zeichnet als „ Weichensteller" für die Bahnen, in denen oftmals die Dynamik der ökonomisch-sozialen Interessen sich fortbewegt hat. Die Bilder von der Schleusenwirkung und von der Weichen– stellung führen beide nicht hinaus über die nach Hegel-Marx üblich gewordene Druckmechanik sowohl der idealistischen wie der mate– rialistischen Geschichtstheorien. Es bleibt die Aufgabe, eine sozio– logische Geschichtstheorie aufzustellen, welche die immer wieder aufweisbaren Konformitäten zwischen den philosophisch-religiösen Weltanschauungen und den gesellschaftlichen Strukturverhält– nissen durch eine vertiefte philosophische und theologische Anthro– pologie verständlich macht. Der von Schwer aus dem marxistischen Sprachstil übernommene Vergleich vom Unter- und Überbau führt hier wie überall in das ergebnislose Spiel einer Druckmechanik, bei dem man die Stelle des Schleusenwärters oder Weichenstellers nach Belieben den religiösen Ideen oder den ökonomisch-sozialen Kräften zuweisen kann. Schwer will natürlich dieses Spiel nicht mitmachen. Er weiß aus der christlichen Anthropologie, daß ebenso wie der historische Idealismus auch der historische Ökonomismus nur ein halber Realismus ist. Nach der konsequent durchgeführten ökonomistischen Lehre vom Unter- und Überbau wären die ent– scheidenden mittelalterlichen Lehren über das Sozialleben bloß 1 Max Seheier, Die Wissensformen und die Gesellschaft. Leipzig 1926. 1 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. 1. Bd. Tübingen 1922, 252.

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