Aktuell - Heft 3/1969

sic1 vielleicht mit dem Handeln eines anderen, der die Gesetze akzeptiert. Der Kampf gegen einzelne wirklichkeitsfremde Bestimmungen kann nur in der Arena legistischer Usancen ausgetragen werden. Mil anderen Worten: Ein Gesetz mag sein wie es ist. Der Verkehrsteilnehmer muß im Interesse seiner eigenen und der fremden Sicherheit diese Regel akzeptieren. Wer erkennt, daß das Gesetz schlecht ist, kann es nie dem Verkehrsteilnehmer überlassen, seinen Protest in Form von Gesetzwidrigkeiten aktiv zu dokumentieren. Er kann nur den Gesetzgeber selbst mit sachlicher, fachlich fundierter Kritik zu einer Umkehr bewegen. In der Praxis tritt uns dieses Problem sehr häufig etwa in Form von Tempolimits auf Autobahnen entgegen, wo Fahrbahnen gewechselt werden. In den Geschwindigkeitstrichtern geht es zunächst auf 100, dann auf 80, auf 60 und schließlich auf 30 kmh vor der Wechselstelle. Eine ganze Reihe von Leuten sagt nun, diese 30 kmh seien Unsinn. Man müßte· ihnen fast recht geben, wüßte man nicht, daß die Autobahnverwaltung die Hände ringt, über jene Fahrer, die ungeachtet der Limitierung in die Absperrungen hineindonnern oder mit weitaus zu hohem Speed so in den Fahrbahnwechsel einfahren, daß sie sich in der neuen Fahrspur überschlagen. Das wäre an sich harmlos, würde dabei nicht erstens Volksvermögen und zweitens Gut und Blut völlig Unschuldiger betroffen. Die Fehleinschätzung der eigenen Fahrkünste fordert die Behörde geradezu heraus, den untersten Standard als Richtschnur zu verwenden. Eine Kette ist so stark, wie ihr schwächstes Glied. An diesem Beispiel zeigt sich auch, wie relativ Geschwindigkeiten zu werten sind. Die ganze Diskussion leidet unter der Begriffsverwirrung. Manche wollen bewußt nicht wahrhaben, daß Geschwindigkeiten um die 100-kmh-Grenze herum sehr schnell sind. Man leugnet die wissenschaftlich längst erwiesene Tatsache, daß die überwiegende Masse der Fahrzeuglenker mehr als 100 kmh gar nicht zu fahren in der Lage ist. Man rennt gegen Mauern an, die gar keine sind. Herr Meier und Herr Müller haben nämlich instinktiv ein sehr gutes Gefühl dafür, daß 80, 90, 100 oder 110 kmh sehr schnell sind. Wenn sie es auch noch nie ausprobiert haben, so spüren sie, daß es ein gewagtes Experiment wäre, in einem normalen Wohnzimmer von einer Ecke zur anderen aus etwa 4 oder 5 Meter Anlauf mit ! 1 1 1 l I 1 1 dem Schädel gegen die Wand zu rennen. Herr Meier oder Herr Müller fühlen unbewußt, wo ihnen die Natur Grenzen setzt. Für viele aber ist jener langsam, der langsamer als sie selbst fährt. übersetzt heißt das: subjektiv gesehen ist natürlich einer, der auf der Autobahn etwa 110 kmh fährt, gegenüber jenem, der ihn mit 160 kmh überholt, ein „Krabbler''. Umgekehrt aber entsetzt man sich darüber, wie schnell doch Reiseautobusse oder Lkw-Züge sind, die mit 80, 90 und 100 kmh durch die Gegend donnern. Aber im Handumdrehen ist dieses Tempo „langsam", wenn es um den eigenen Marschweg geht. Wir haben selbst die Groteske erlebt, daß Geschwindigkeitsbeschränkungen auf einzelnen Sektoren unserer Bundesstraßen zunächst von „Experten" gutgeheißen wurden. Ein paar Tage später, wenn diese „Fachleute" die Strecke selbst befahren mußten, war dieses Limit das unsinnigste von der Welt. Man könnte über diese Widersinnigkeiten Bände schreiben. Tatsache ist, daß man die Begriffe ,,schnell" und „langsam" sehr klug, sehr objektiv und sehr praxisbezogen behandeln muß. Man muß sich vor allem darüber im klaren sein, daß man mit der Fehldeutung der Begriffe „schnell" und „langsam" der Masse der Kraftfahrer falsche Vorstellungen vom Fahrtempo überhaupt oktroyiert. Die Wucht der Diskussion sollte sich gar nicht um die Spitzengeschwindigkeiten drehen, sondern um die Notwendigkeit, sich der Fahrsituation anzupassen. Um es extrem zu illustrieren: Es kann durchaus sein, daß eine Fahrstrecke völlig leer und ohne jede Behinderung einen Höchststand der Tachonadel provoziert. Jede Windbö, jeder prasselnd einsetzende Regenguß, jedes querende Reh kann aus der Illusion der Freiheit die erschütternde Erkenntnis der Katastrophe machen. Es stünde uns daher wohl an, uns nicht über Limits zu unterhalten, deren untere Grenzen im allgemeinen auch noch schnell genug sind, als darüber, daß jeder Kraftfahrer es lernen müsse, Situationen abzuwägen und mit dem Gaspedal zu koordinieren. Jedes Tempo ist richtig, solange es nicht jenseits der Risikogrenze oder auf Kosten anderer gefahren wird. Es hat Extreme gegeben. Behördenvertreter erklärten, sie müßten in 50-kmh-Strecken bei 51 gefahrenen Stundenkilometern strafen. Wir sind uns darüber klar, daß das zu weit gegangen ist. Die Technik gestattet trotz Mondflug solche enge Grenzen nicht. Während wir Raketen nach dem Orion einsteuern können und spielend das Meer der Stille erreichen, laufen unter zehn Autos keine neun Tachometer gleich. Diese Schwächen kennen wir. Aber ist das auch schon ein Freibrief? Kann man Gesetze einfach durchlöchern? Wo lieg_t denn die moralische Grenze, wenn eine technische kaum fixierbar ist? Geben wir es doch ehrlich zu: wir wenden die allgemeine Nachsicht ja nur deshalb an, weil wir für uns selbst Nachsicht beanspruchen. Es hat gar keinen Sinn, um die Dinge herumzureden: Weil wir uns persönlich Herr der Lage fühlen, konzedieren wir freizügig die Sünden anderer. Das ist doch keine Basis für eine ordentliche Verkehrszukunft. Wir plädieren bei Gott nicht für das, was am Schreibtisch vermasselt wird. Wir plädieren aber dafür, daß die Begriffsverwirrung aufhört. Für den Verkehrsteilnehmer hat geltendes Recht einfach zu gelten. Das hört sich diktatorisch an, ist aber in Wahrheit das einzige Mittel, Ordnung zu schaffen und aufrechtzuhalten. Wenn es nämlich dem einzelnen überlassen bleibt, Sinn oder Unsinn von Maßnahmen zu beurteilen, entsteht notwendigerweise ein Chaos: Sinn oder Unsinn von Maßnahmen zu beurteilen, ist nämlich subjektiven Kriterien unterworfen. Wer zum Beispiel Einsicht genug hat, eine 30-kmh-Beschränkung auf einer neugebauten Strecke auf die noch herrschende technische Unzulänglichkeit der Fahrbahndecke zurückzuführen, der wird die 30 kmh akzeptieren. Wem sich diese Einsicht nicht anbietet, der wird diese 30 kmh als Unsinn werten. Wir sind durchaus der Meinung, daß so manches Limit ungerechtfertigt ist. Wir kennen die Nachlässigkeit einzelner Behördenvertreter. Wir wissen auch, wie praxisfern in diesen oder jenen Amtsstuben noch gedacht wird. Aber das ist eine Sache. Die andere Sache ist es, daß im Sinne der Sicherheit alle Gesetze verbindlich zu sein haben. Wer Ordnung will, muß zunächst einmal selbst Ordnung halten. Und wer Ordnung halten will, wird dies um so leichter tun können, wenn er darüber nachdenkt, daß „schnell" und ,,langsam" Kriterien einer subjektiven Beobachtung sind. Diese Begriffe zu objektivieren, ist bereits ein Schritt zur Verbesserung der Verkehrssicherheit, ein Schritt also, den wir doch alle gehen wollen. Reinhold Pilz 5

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