Aktuell - Heft 3/1969

Ein Thema, an dem sich die Gemüter erhitzen. Berührt es uns doch fast täglich in irgendeiner Weise. Wir haben im letzten Heft über das „Tempo 100" geschrieben und bringen nun vom selben Autor einen allgemeinen Beitrag über Geschwindigkeitsbeschränkungen, der sich nicht unbedingt mit der Meinung der Redaktion deckt. Wir werden im nächsten Heft einem Vertreter anderer Meinungen Raum geben. Mit den Begriffen „schnell" und „langsam" wird heute Schindluder getrieben. Wider besseres Wissen wird „schnell" und „langsam" oft nicht objektiv, sondern höchst subjektiv gesehen und nach Bedarf mit unterschiedlichsten Forderungen vermischt. Die Geschwindigkeit ist von zwei Warten her zu betrachten. Da ist zunächst einmal die subjektive Beurteilung. Sie orientiert sich nach dem persönlichen Geschwindigkeitseindruck, nach dem persönlichen Fahrvermögen und nach den Reflexbildern, die aus der näheren oder ferneren Umgebung uns erkennen lassen, ob wir schnell sind. Der zweite Standort ist der objektive. Er bestimmt sich ausschließlich aus den Werten der Tachometernadel und aus den Beziehungen, welche diese Werte zur Umwelt haben. Um dies deutlich zu machen: 50 kmh in einer engen Gasse sind objektiv immer 50 kmh. Sie sind subjektiv aber schnell. Zumindest schneller als 50 kmh auf einem Fahrstreifen der Autobahn. Zur Bestimmung der Fahrgeschwindigkeit ist aber keineswegs nur eine optische Orientierung notwendig. Geschwindigkeit ist eine Sache der geistigen Einstellung, der Einsicht, der Erkenntnis. Wer diese Frage so angeht, muß zugeben, daß zunächst einmal Geschwindigkeit und Fahrsituation innig miteinander verbunden sind. Das läuft darauf hinaus, was oft und richtigerweise behauptet wird: 50 kmh können für die Situation X viel zu schnell, für die Situation Y langsam genug sein. Man sieht schon hier, eine klare Aussage, was ,,schnell" und was „langsam" sei, ist außerordentlich schwierig. Sie ist wahrscheinlich überhaupt nur vom Geistigen her richtig in den Griff zu bekommen. Man muß bedeutend zurückschalten und sich vergegenwärtigen, daß das Kraftfahrzeug nicht nur dazu geschaffen wurde, in Minimalzeiten Maximalstrecken zurückzulegen. Das kardinale Kriterium der Beschleunigung und der Fortbewegung ist zuvorderst die Unabhängigkeit. Diese freie Verfügung über Zeit und Raum ist 4 es, die sich der Mensch Jahrtausende hindurch gewünscht hat: die theoretische Möglichkeit, erhebliche Strecken mit erheblicher Geschwindigkeit überwinden zu können. Die Realisierung dieses Wunsches hängt jedoch von vielen Gegebenheiten ab. So etwa von der Motorkraft, vom physischen und psychischen Vermögen des einzelnen, von der Beschaffenheit der Fahrbahn, von Willenskomponenten, von der Umwelt und schließlich und endlich von Prinzipien der Ordnung. Der Mensch erfindet, der Mensch bewegt, der Mensch versucht mit seiner ganzen Unzulänglichkeit eine Harmonisierung zwischen diesen Faktoren herbeizuführen. Wir befinden uns nun genau dort, wo dieses Bestreben auf die Schaffung von Gesetzen hinausläuft. In der vielfältigen Palette dieser Gesetzgebung entdecken wir auch das Geschwindigkeitslimit. Sichtbar begegnen uns diese Beschränkungen als Verkehrszeichen, welche uns anzeigen, daß diese oder jene Geschwindigkeit nicht überschritten werden darf. In der Regel empfinden wir aber jegliche Art von Geschwindigkeitsbeschränkung als zu hart. Und dies deshalb, weil wir uns in unserem ganz persönlichen Geschwindigkeitsbedürfnis eingeengt fühlen. Dabei stoßen wir auf ein Kuriosum: es gibt kaum eine Tätigkeit des Menschen, die nicht von Gesetzen reglementiert ist. Keiner von uns hat absolute Freizügigkeit in Finanzdingen. Keiner von uns kann sich einer Schulpflicht entziehen. Keiner von uns darf gewisse Schranken der Moral überspringen. Für jeden Fehltritt werden erhebliche Strafsanktionen in Aussicht gestellt. Die meisten, ja fast alle Gesetze dieser Art werden von der Masse der Individuen akzeptiert. Sie werden befolgt. Nur eine winzige Minorität stellt sich außerhalb dieser Grenzen und gilt zu Recht als Außenseiter. In Verkehrsfragen hingegen ist es chevaleresk, die Regeln zu verletzen. Wir sind heute so weit, daß schwere Verkehrsvergehen mit schwersten Folgen vom Clan der Anverwandten und Freunde als absolut läßliche Kavaliersdelikte gewertet werden. Wir sind so weit, daß wir ein regelrechtes Feilschen in Szene setzen, ob man Geschwindigkeitsdelikte nach 10- oder nach 15- oder nach 20prozentiger Überschreitung ahnden soll. Dabei gibt es keine Diskussion darüber, daß ein Mann nach der Entwendung von 5 Schilling ein Dieb ist. Er ist auch ein Dieb, wenn er 100.000 Schilling stiehlt. Derjenige aber, der ein Tempolimit um 5 kmh überschreitet, ist ein „Opfer der Technik" (Tacho-Mißweisung) oder der unbewußten Mißachtung einer Vorschrift. Derjenige, der um 50 kmh über die Stränge schlägt, ist auch nichts anderes als ein armer Sünder. Diese Tempolimits sind der Prüfstein der Verkehrsgesetzgebung und unserer Einstellung dazu. In vielerlei publizistischen Emotionen wird etwa der Behörde der Vorwurf gemacht, sie decouvriere Verkehrszeichen dadurch, daß sie da und dort Tempobeschränkungen verhänge, die der Kraftfahrer nicht einzusehen vermöge. Moment! Wie viele andere Gesetze des umfangreichen Kodex der Gegenwart vermag der Bürger einzusehen? Wem ist beispielsweise klar, warum er bei einem Maximalgehalt über Jahrzehnte hin dieselbe Pension bezieht wie einer, der einen Bruchteil dieser Einkünfte denselben Zeitraum hindurch bezogen hat? Wer von uns durchdringt das Dickicht der Nahrungsmittelgesetzgebung? Wer weiß etwas über jene Gesetze, welche die Preisregulierungen steuern? Unwidersprochen hält sich die Masse der Staatsbürger an alle diese teilweise haarsträubend praxisfremden Gesetze. Ohne ein Wort des Murrens bezahlen Hunderttausende von Frauen 120 und noch mehr Schilling für 1 Kilogramm K:1lbflei5ch. Geht es aber um die Einhaltung eines Verkehrsgesetzes, etwa um den Respekt vor einer Sperrlinie, fühlen sich viele in ihrer Ehre verletzt. weil sie an Ort und Stelle nicht einzusehen vermögen, wozu diese oder jene Verkehrsvorschrift gut sein soll. Der Verkehrsteilnehmer, der sündig wird, und jener, der dies verteidigt, gehen da einen gefährlichen Weg. Wer nämlich die Verkehrsgesetze sofort als übertretbar bezeichnet, wenn sie dem „Konsumenten" nicht einsichtig sind, zerstört das Rechtsgefüge überhaupt. Das soll beileibe nicht bestreiten, daß auch Verkehrsgesetze schlecht sein können. Der Kampf gegen Unsinn dieser Art kann aber vom Verkehrsteilnehmer nicht in der Fahrsituation geführt werden. Seine Handlungsweise kreuzt

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