Linzer Tages-Post vom 1. Jänner 1905

vollkommnung dieser wertvollen Industrie sehr hervorgetan hat. Jeder Tag beinahe gebiert neue Handschuhmoden, die augenblicklichen können schon von der morgigen überholt sein. Ein Beispiel für viele. Bei einem Wohltätigkeitsfeste, das vor einigen Jahren in Trouville stattfand, hatte eine Dame der höchsten Gesellschaft ihr Erscheinen zugesagt. Da sie sich etwas mit der Toilette verspätete, gedachte sie die Handschuhe während der Fahrt im Wagen über die Hände zu streifen. Dabei vergriff sie sich und wählte Handschuhe von verschiedener Farbe. Wer beschreib! ihren Schreck, als sie in den Saal tretend wahrnahm, daß sie die eine Hand mit einem schwarzen, die andere Hand mit einem Weißen Handschuh bekleidet hatte! Zufälligerweise bestand auch ihr Kostüm aus Seidenstoff in diesen beiden Hauplfarben. Schnell gefaßt sagte sie sich, daß im Grunde keine große Disharmonie Vorhanden sei. Und siehe: der Erfolg, den sie mit dieser merkwürdigen Toilette errang, war geradezu ausschlaggebend. Am nächsten Tage trugen die Damen von Trouville fast durchgehends Handschuhe von verschiedenen Farben und die Mode, so unbeabsichtigt sie in ihrem Ursprünge eigentlich war, schlug durch und hielt sich eine ganze Zeit hindurch siegreich auf dem Platze. Verratene Liebe. Novrlletke von Rrinhold Orkmann. An der Reeling des Promenadendecks, über das der steife Nordwest beständig einen Sprühregen seiner salziger Gischttröpfchen blies, stand mit verschränkten Armen und tief-ernstem Antlitz ein einsamer Passagier. Er war dem Konzert im Musiksalon entflohen und starrte nun unverwandt in die unendliche Wasserfläche hinaus, die der nach Europa gewandte Bug des Ozeandampsers durch ­ furchte. Da Plötzlich erklang hinter ihm eine jugendlich frische Mädchenstimme: „Hier also stecken Sie, Herr Doktor? Wenn Fräulein Heßling wüßte, daß Sie lieber dem Gesang der Wellen als dem ihrigen lauschen — Sie hätten es für immer mit ihr verdorben." Ihr Lachen klang wie das Anschlagen eines silbernen Glöckchens und aus der hoch ­ geschlagenen Kapuze ihres Regenmantels schaute ein süßes Schelmengesichtchen zu dem ernsten Manne auf. Der aber vermied es offenbar, in das holde Mädchenantlitz zu blicken. Und es waren ein paar Sekunden verstrichen, bevor er erwiderte: „Es gibt Stimmungen, Fräulein von Lingen, die den Menschen untauglich machen für jede Art von Geselligkeit, wäre sie auch von der liebenswürdigsten Art." Seine Antwort hatte sie ersichtlich verletzt. „Da es die Einsamkeit war, die Sie suchten, so bitte ich um Entschuldigung, daß ich gestört habe." Sie wandle sich ab, um weiterzugehen; aber mit einer bittenden Gebärde hielt er sie zurück. „O bleiben Sie noch einen Augenblick! Ich muß mich sehr schlecht ausgedrückt haben, wenn Sie mich so ganz mißverstehen konnten. Was mich in die Flucht getrieben hat, war ja auch eigentlich nur das Lied, das Fräulein Heßling soeben beginnen wollte und das ich nicht hören mag." — „Es war das »Ringlein« von Chopin. Sie lieben es also nicht?" „Nein, denn es löst in meinem Herzen Erinnerungen aus, die mich quälen und von denen ich seit Jahren heim ­ gesucht werde." Ada von Lingen antwortete nicht. Aber ihr Antlitz war merkwürdig ernst geworden. Der junge Arzt streifte mit einem fast ichcuen Blick über das liebliche Profil, dann starrte er wieder ins Meer hinaus. Und sekundenlang blieb es still zwischen ihnen. Er zweifelte nicht, welche Deutung er ihrem Verstummen zu geben habe, denn schon seit dem ersten Tage der gemein ­ samen Ozeanfahrt hatte sie in der liebenswürdigen Natür ­ lichkeit ihres Wesens kaum ein Hehl daraus gemacbt, wie lebhaftes Gefallen sie an seiner Gesellschaft fand. Und in der Enge des Zusammenlebens auf dem Schiffe hatten sich die zarten Fäden von Herz zu Herzen immer dichter gesponnen. Nicht mit Worten, aber mit einem Blick, einem Lächeln halte ihm Ada bei diesem und jenem Anlaß offen ­ bart, wie es in ihr aussah. Und er hatte sich von Stunde zu Stunde unentrinnbarer von dem holden Zauber umstrickt gefühlt, der von ihrer reizenden Persönlichkeit ausging. Heute aber war er aus dem Musiksalon geflohen mit dem Entschlüsse, diese Bande zu zerreißen und sich mit ganzer Macht zur Wehr zu setzen gegen die liebliche Verführung, der er sich fast schon erliegen fühlte. Und weil er sich in diesem Augenblicke mir Schrecken bewußt wurde, wie kläglich es um seine Widerstandskraft bestellt war — weil es wie eine unwiderstehliche Versuchung über ihn kam, das entzückende Geschöpfchen da neben ihm in seine Arme zu nehmen — darum zwang er sich, dem Gebote der Ehre gehorchend, grausam zu sein gegen sie wie gegen sich selbst. „Sie haben mich neulich gefragt, mein gnädiges Fräulein," brach er mit gepreßter Stimme das lange Schweigen, „ob es nur die Sehnsucht nach der alten Heimat sei, die mich nach kaum sechsjähriger Abwesenheit nach Europa zurücksührt. Ich bin damals der Antwort ausgewichen. Heute aber möchte ich sie Ihnen geben — vorausgesetzt, daß es Sie nicht langweilt, eine an sich sehr alltägliche Geschichte zu hören. „Nein!" klang es leise. „Es langweilt mich gewiß nicht, Herr Doktor!" Ein schwerer Atemzug hob die Brust des Mannes. Dann sagte er: „Nicht Sehnsucht treibt mich heim, sondern das Ver ­ langen, begangenes Unrecht zu sühnen. Mit dem Bewußt ­ sein solchen Unrechts durchs Leben zu gehen, ist doch so leicht nicht, als ich geglaubt hatte. Es sind jetzt sieben Jahre. Ich hatte eben meine Staats ­ prüfung bestanden und war als Volontärarzt an einem Kranken ­ hause beschäftigt. Da ich mich für den Sohn eines reichen Vaters hielt, genoß ich das Leben in vollen Zügen und war nicht allzu ängstlich in der Wahl meiner Vergnügungen. So lud mich einer meiner Freunde eines Abends in eine lustige Gesellschaft, die, wie er mir sagte, durch die An ­ wesenheit einiger niedlicher Choristinnen verschönt werden sollte. Die munteren Theaterdamen waren denn auch wirklich gekommen: mir gefiel unter ihnen nur eine einzige, obwohl sie die stillste und zurückhaltendste von allen war. Sie erschien mir damals als die Verkörperung alles weiblichen Liebreizes, so daß ich ihr vom ersten Augenblicke an ein mehr als ober ­ flächliches Interesse entgegenbrachte. Bald hatte ich ersahren, daß sie nur aus dem Grunde zum Theater gegangen war, um ihre kränkliche Mutter unterstützen zu können, und daß vie Stiftskirche ru Karsten: lVintersakristei. sie sich in ihrem Berufe sehr wenig glücklich suhle. — Um es kurz zu machen: ich suchte ihre nähere Bekanntschaft, ich fand alle ihre Angaben bestätigt und verliebte mich bald in sie mit der ganzen leidenschaftlichen Kopflosigkeit eines vier- undzwanzigjährigen Menschen. Sie erwiderte meine Zu ­ neigung und da ich fest entschlossen war, sie zu heiraten, sobald ich den voraussichtlichen Widerstand meines Vaters besiegt oder mich auf die eigenen Füße gestellt haben würde, so ver ­ anlaßte ich sie, ihre Tätigkeit beim Theater auszugcben und statt dessen ihre in vieler Hinsicht etwas mangelhaften Kennt ­ nisse zu vervollkommnen. Wir verlebten als heimlich Verlobte ein paar glückliche Monate. Tann starb mein Vater und es stellte sich heraus, daß er als armer, ja völlig überschuldeter Mann aus dem Leben gegangen war. Alle meine Zukunsts- pläne wurden dadurch mit einem Schlage über den Haufen geworfen. Ich sah mich ausschließlich auf die eigene Kraft angewiesen, und die Möglichkeit, ein armes Mädchen zu heiraten, erschien in. unabsehbare Ferne gerückt. Aber ich wollte trotzdem nicht von meiner Paula lassen, und auch sie gelobte, auf mich zu warten. Obwohl man ihr ein vorteilhaftes Theater-Engagement anbot, schlug sie es auf meine dringende Bitte aus und nahm eine Stellung als Buchhalterin an, wo sie vom Morgen bis zum Abend hart arbeiten mußte, um kümmerlich das tägliche Brot für sich und ihre kranke Mutter zu verdienen. Ich aber entschloß mich im Interesse unserer Zukunft, dem Rufe eines Ver ­ wandten Folge zu leisten, der in Amerika eine stark frequen ­ tierte Heilanstalt begründet hatte. Wir schrieben uns anfangs in den kürzesten Zwischenräumen. An mir lag die Schuld, daß dieier Briefwechsel nach Ablauf des ersten halben Jahres ins Stocken geriet. Die neuen Eindrücke, eine angestrengte Tätigkeit und Zerstreuungen mannigfachster Art ließen das Bild des vordem so heißgeliebten Mädchens mehr und mehr verblassen. Ihre zärtlichen Briefe, die Versicherungen ihrer unwandelbaren Treue fingen an, mir Unbehagen zu ver ­ ursachen. Ich schob meine Antworten immer weiter hinaus, und endlich — — Sie dürfen mich deshalb verachten, Fräulein von Lingen — , endlich verstummte ich ganz. In Zwischenräumen von mehreren Monaten kamen noch einige bewegliche, fast verzweifelte Briefe Paulas. Dann ließ auch sie, von meiner Treulosigkeit überzeugt, nichts mehr von sich hören. Das Band war zerrissen und ich gestehe, daß ich anfangs nichts als Erleichterung darüber empfand. Glück und Erfolg hatten sich mir weit über alle Hoffnung hinaus zugewendet. Mein Verwandter, der sich mit einem großen Vermögen zur Ruhe setzte, übertrug mir sein Sanatorium, und schon nach Verlauf weniger Jahre war ich ein wohlhabender Mann. Da — es mögen etwa achtzehn Monate seitdem vergangen sein — wurde ich eines Tages zu einem sterbenden jungen Mädchen gerufen, das Gift genommen hatte, weil es von seinem Geliebten treulos verlassen worden war. Nie werde ich den schrecklichen Todeskampf dieses unglückseligen Ge ­ schöpfes vergessen. Und als ich von ihrer Leiche ging, kam ich mir selbst wie ein Mörder vor; denn ich hatte ja an einem vertrauenden Wesen dieselbe Schändlichkeit begangen. Und wenn ich auch die erstorbene Liebe in meinem Herzen nicht zu neuem Leben erwecken konnte, so lastete doch seit dieser Stunde das Bewußtsein meiner Schuld schwer auf meinem Gewissen. Ich mußte unter allen Umständen erfahren, was aus Paula geworden sei, und ich setzte alle Hilfsmittel in Bewegung, um ihren Aufenthalt zu ermitteln. Es war umsonst. Ich konnte nichts weiter in Erfahrung bringen, als daß ihre Mutter vor vier Jahren gestorben sei und daß sie bald nachher ihren bisherigen Wohnort ver ­ lassen habe. Ich aber konnte keine Ruhe finden. PaulasBild, das mehr und mehr mit dem jener Selbstmörderin zusammen- floß, verfolgte mich. Und so kam es, daß ich mich nun selbst nach Deutschland aufgemacht habe, um sie zu suchen. Ich weiß nicht, ob ich noch früh genug kommen werde, das Un ­ recht zu sühnen, das ich an ihr begangen. Sie aber, Fräulein Ada, werden es jetzt verstehen, warum mir nichts in der Welt peinvoller ist, als Chopins Lied von der verratenen Liebe anzuhören." — Er war zu Ende und das junge Mädchen, das ihn nicht unterbrochen hatte, verharrte noch immer im Schweigen. Erst als er nach einer langen, drückenden Stille leise und beklommen fragte: „Habe ich jetzt Ihre Achtung verloren, Fräulein von Lingen? Werden Sie künftig nur noch als an einen wortbrüchigen Menschen an mich denken?" — erst da erwiderte sie, sich tapfer beherrschend, mit ihrer lieben weichen Stimme: „Nein, Herr Doktor! Da Sie so schwer darunter leiden, und da Sie es doch wieder gut machen wollen, verdienen Sie auch nie ­ mandes Verachtung. Möge es Ihnen vergönnt sein, sie wiederzufinden , die Sie suchen. — Aber es ist kalt geworden hier draußen. Und meine Mutter könnte mich vermissen. Gute Nacht! Und haben Sie Dank sür Ihre Offen ­ heit!" — Sie wandte sich zum Gehen, und jetzt hatte er nicht mehr den Mut, sie zurückzuhalten. Aber wie ihre schlanke Gestalt seinem nach ­ schauenden Blick verschwand, da zitterte durch seine Seele die Gewißheit, daß in diesem Augenblick auch das Glück aus seinem Leben entschwand. -------- — Der Dampfer war in Hamburg gelandet und nach allen Richtungen der Windrose hin waren seine Passagiere auseinander gestoben. Ein Zufall nur hielt Frau von Lingen und ihre Tochter noch für eine kurze Zeitspanne mit dem Doktor Bernhard Waltcmath zusammen. Sie waren im nämlichen Hotel abgestiegen und wollten erst am nächsten Tage nach entgegen ­ gesetzten Zielen abreisen. Den letzten Abend aber gedachte man gemeinsam zu verleben und die Damen hatten eine Einladung des Arztes zu einem Besuch des Theaters angenommen. Man gab ein Lustspiel und schon bevor sich die Gardine hob, hörten sie um sich her von der Leistung der jugendlichen Liebhaberin in der weiblichen Hauptrolle sprechen. Als Paula Wildt stand sie auf dem Zettel und schon die sreudige Bewegung, die bei ihrem Auftreten durch den Zuschauerraum ging, ließ erkennen, daß sie der Liebling des Publikums sein müsse. Sie war im Sinne ihrer Rolle bis hart an das Proszenium vorgetreten und der Helle Schein der Rampenlichter fiel voll auf ihr hübsches, jugendlich-frisches Gesicht. Da kam es wie ein unwillkürlicher Ausruf höchster Ueber- raschung von Doktor Waltemaths Lippen Und als Ada, die an seiner Seite saß, sich daraushin nach ihm umwandte, sah sie, daß er totenbleich geworden war und daß seine Augen mit einem seltsam starren Ausdrucke an der Schauspielerin hingen. „Um Gottes willen, Herr Doktor, was ist Ihnen?" fragte sie leise. Er aber suchte nach ihrer Hand und flüsterte mit halb erstickter Stimme: „Sie ist es, Paula!" — Nun war auch Ada von Lingen blaß geworden. — Als der Vorhang fiel, war des Beifalls und der Hervor- rufe kein Ende. Namentlich ein kleiner, dicker Herr, der hinter dem Doktor saß, wurde nicht müde: „Frau Wildt! Frau Wildt!" zu schreien. — Wie elektrisiert wandte sich Bernhard Waltcmath plötzlich nach ihm um. „Verzeihen Sie, mein Herr — ich bin hier fremd — und Sie würden mich zu Dank verpflichten, wenn Sie mir sagten, ob die Künstlerin, die als Paula Wildt auf dem Zettel steht, vielleicht — - vielleicht verheiratet ist?" „Natürlich ist sie verheiratet!" lachte der kleine Dicke. „Mit einem sehr wohlhabenden Kaufmann — und glückliche Mutter von zwei reizenden Kindern!" Nun applaudierte plötzlich auch der Doktor wie ein Ver ­ rückter. Ada von Lingen aber saß ganz still, mit strahlendem Gesichte. Nie hatte sich Bernhard Waltcmath bei einer Theater ­ vorstellung so königlich amüsiert wie während der folgenden Auszüge des Stückes. Und als er nach beendeter Ausführung draußen in der Garderobe den Abendmantel um die Schultern Adas legte, flüsterte er ihr übermütig in das rosige Ohr: „Welch ein Glück, daß nicht jede an verratener Liebe stirbt! Sie sah nicht aus, als ob sie mir noch nachtrauerte — nicht wahr ? — Darf ich morgen bei deiner Mutter um dich werben?" Sie sagte nicht ja, aber sie sah ihn an mit einem so leuchtenden Blick, daß ihre lächelnden Lippen wohl stumm bleiben durften.

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