Oberösterreich, 32. Jahrgang, Heft 1, 1982

Oswald Adalbert Stifter als Seher und Deuter der Zeit Das Schicksal seiner späten Werke - Eine Prophetie vor rund 130 Jah ren - Trost in der Not Stifter teilt das Schicksal vieler Großer: er mußte vyarten, bis seine Zeit kommt, und auch damit gehört er zu den großen Männern, daß er warten konnte: in seinen Werken lag die Kraft, Jahrzehnte überdau ern zu können. Nachdem Stifter mit seinen ,,Studien" zu den meist gelesenen Dichtern seiner Zeit gehört hatte, blieben seine großen Werke, der,,Nachsommer" und der,, Witiko",-unbeachtet. Es mußte mehr als ein halbes Jahrhundert dahingehen, ehe man diese Dichtun gen und Stifters Gesamterscheinungen in ihrer wahren hohen Be deutung zu würdigen begann. Adalbert Stifter war sich dieses Schicksals bewußt; er hatte sich damit abgefunden, daß gerade seine späteren Werke bei seinen Lebzeiten unbeachtet blieben, er trug aber ebenso die Gewißheit in sich, daß auch für den ,,Nachsommer" die Zeit einmal kommen würde. Im Jahre 1865 schreibt er an seinen Verleger Heckenast: ,,Ich lese jetzt den Nachsommer und zwar zum ersten Male als Leser . . . Dieses Buch hat seine Zukunft, weil es für das gegenwärtige Geschlecht zu tief ist und erst reifen muß, es hat gewisser eine Zukunft als alles, was ich früher geschrieben habe. Ich erlabe mich jetzt an dem Reinen, das in ihm ist." Nachdem Nietzsche den ,,Nachsommer" zu den besten, streng aus gewählten deutschen Prosadichtungen gezählt hatte, erkannten ver einzelt auch andere erleuchtende Geister dieses Werk, sowie die spä teren Dichtungen Stifters in ihrem Wert. Die Gesamterscheinung Stifters aber, die weit über das Gebiet der Dichtung hinausragt, wurde in der vollen Größe erst erkannt und gewürdigt, als das Sude tendeutschtum seine schwerste Notzeit durchstehen mußte. Im Win ter des Jahres 1947, als der Adalbert-Stifter-Verein in München seine Tätigkeit begann, hat Wilhelm Hausenstein in einer Festrede Stifters Bedeutung gerade für die Notzeit itef empfunden und formuliert. Er sprach von,,der Zeit, da Deutsche ihr Gutes, ihr Bestes nach Böhmen tragen konnten . . . Peter Parier aus Schwäbisch-Gmünd baute im 14. Jahrhundert den Chor des Veitsdoms auf dem Hradschin. Mozart brachte 1787 seinen Don Giovanni nach Prag. Diese Zeiten sind durchaus vorüber. An uns ist es nun, den Flüchtigen von jenseits des Bayerischen Waldes im Sinne Stifters unsere Herzen aufzutun, in humaner Art und nach dem Gesetz des Christen, das in Adalbert Stif ter der Aufklärung, der Revolutionen und auch den von ihm nach Goethes Vorbild so sehr geliebten Naturwissenschaften standgehal ten hat." - Abschließend fand Hausenstein die schönen Worte:,,Ma chen wir uns immer klar, was überhaupt uns an deutscher Dichtung, Weisheit und Kunst aus Böhmen und Mähren allein schon zu unseren Lebzeiten zugewachsen ist? Lassen Sie mich nur einige Namen der nahen Vergangenheit und noch der Gegenwart beschwören. Hier sind sie: Marie von Ebner-Eschenbach, Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, Franz Werfel, Rudolf Kassner (mit diesem Namen habe ich ei nen der originalsten und stärksten Denker der Gegenwart bezeich net), Alfred Kubin (ich brauche nicht erst zu sagen, daß dieser Name auf den größten Zeichner unserer Epoche weist). Denken Sie diese Namen weg und Sie wissen sofort, wieviel dem deutschen, dem abendländischen Geiste mangeln würde! - Hinter allen diesen Na men erhebt sich mit patriarchalischer Größe der Schatten Stifters. Sollten wir ausrechnen müssen, wieviel der deutschen Literatur, wieviel der Weltliteratur fehlen würde, wenn dieser erlauchte, dieser freundlich strenge und verpflichtend-herzliche Name nicht erschie nen wäre? So aber, wie er erschienen ist, bedeutet er uns einen Not helfer deutscher Gegenwart - außer Goethe und zusammen mit dem homerischen Schweizer Epiker Jeremias Gotthelf gerade für diese Zeit vielleicht den wichtigsten Nothelfer im dichterischen Bereich der Deutschen." Je mehr man sich mit Stifters Werken befaßt, nicht nur mit seinen Dichtungen, sondern auch mit den Aufsätzen und den Briefen, desto mehr gelangt man zu der Erkenntnis, daß Stifter nicht nur einer der großen Dichter ist, die über den heimatlichen Bezirk weit hinausgrei fen und der ganzen Menschheit gehören, sondern daß ihm auch über das Gebiet der Dichtung hinaus eine große, gerade heute lebendige Bedeutung zukommt, und zwar auf dem Gebiet der Politik, die in die sem Zusammenhang allerdings nicht im Sinne der Tagespolitik ver standen werden darf, sondern im Sinne einer Überschau über den Schicksalsgang des deutschen Volkes und der europäischen Völker familie. Bekannt ist, mit welch schwerer Sorge die Ereignisse des Jahres 1848 den Dichter erfüllt haben. Er schrieb im „Wiener Boten" vom 6. 6. 1849: ,,Bei dieser Gelegenheit ist mir ein trauriger Gedanke gekom men, daß uns der Eigennutz und die Genußsucht jedes einzelnen noch mehr in Zertrümmerung und in Auseinanderweichen unserer Zustände bringen wird, bis ein wildes, zahlreiches und barbarisches Volk, das aber seine Kraft neben seiner Rohheit bewahrt hat und das vielleicht jetzt noch im fernen Asien wohnt, über uns hereinfluten und uns und unsere Bildung auf viele Jahrhunderte hin verschlingen und die Welt wieder in die Nacht der Unwissenheit und der Rohheit vergraben wird." Doch war diese Prophetie nicht Stifters letztes Wort. Wir besitzen von Ulm noch eine Reihe von Aussprüchen, die auch uns heute mit neuer Hoffnung erfüllen dürfen, so den folgenden: ,,Ich glaube nachgewie sen zu haben, daß es keine andere Krankheit der Zeit gibt als Unwis senheit und Unredlichkeit, und daß alles Übel, das in jüngster Ver gangenheit die Welt heimgesucht hat, nur allein von diesen zwei Dingen gekommen ist; Ja ich behaupte, es gebe überhaupt kein ande res Übel als Verstandeslosigkeit und Schlechtigkeit; alles andere, was wir Übel heißen, ist nur ein Ungemach, das wir durch Verstand und Redlichkeit leicht tragen und mindestens schon voraussehen und abwenden können. Kein Weltgeist, kein Dämon regiert cüe Welt! Was je Gutes oder Böses über die Menschen gekommen ist, haben die Menschen gemacht. Gott hat ihnen den freien Willen und die Ver nunft gegeben und hat ihr Schicksal in ihre Hände gelegt. Dies ist un ser Rang, dies ist unsere Größe. Daher müssen wir Vernunft und freien WUlen, die uns nur als Keime gegeben werden, ausbilden: es gibt keinen anderen Weg zum Glück der Menschheit, weU Vernunft und freier WUle dem Menschen allein als seine höchste Eigenschaft gegeben sind und weil sie immerfort bis zu einer Grenze, die wir jetzt noch gar nicht zu ahnen vermögen, ausgebildet werden können." 95

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