Oberösterreich, 28. Jahrgang, Heft 4, 1978

Olympiade Besuch Wir machen eine Olympiade, eine Olympiade der prallen Muskeln, eine Olympiade der dicken Brieftaschen, eine Olympiade der vollen Bäuche, eine Olympiade der Bombenteppiche, eine Olympiade des Terrors und des Hungers. Wir machen eine Olympiade der Schmerzen. Wir machen eine Oympiade Jesu Christi und seiner Christen, eine Olympiade des Fußstapfentretens, was eine schwere Kirnst ist. Wir suchen jenen, der am schnellsten läuft, am schwersten hebt, am besten trifft, am weitesten springt. Vielleicht springt einer einmal zehn Meter. Das werden zehn Meter sein im Vergleich mit zehntausend Lichtjahren. Der Neben im Sternbild Orion ist weiter entfernt. Wenn wir alt sind, werden wir wissen, daß hundert Meter in zehn Sekunden unsere beste Zeit war, aber nichts im Vergleich mit der Zeit, die dann kommt. Wir machen ein Olympiade der Trunkenheit und des Katzenjammers. Wir machen eine Olympiade des Herbstes, die der Winter gewinnt. Wir machen eine Olympiade der verlorenen Stunden und der vergeudeten Zeit. Folgende Olympiaden sollten wir machen: Eine Olympiade des Winds der Grashalme, eine Olympiade der Flaumfedern, eine Olympiade des Flugsands, eine Olympiade der Demut und des Verzichts. Als du kamst, kannte ich dich gleich. Lehm klebte an deinen Schuhen. Von deinen Haaren troff Regen. Novembernebel hatten dich blind gemacht. Ich aber kannte dich gleich! Ich wußte sofort, daß du es warst. Ich habe ja Übung im Tote-beschaun, und drei Jahrzehnte Verstellung nützten dir gar nichts. Ich bin dir nicht bös, weil du in Lehmschuhen und naß über den Teppich auf mich zukamst. Was solltet ihr Toten sonst tun? Ihr kommt lautlos, zeigt eure erdverwaschenen Gesichter, und geht wieder fort. Du warst nicht der erste. Ich bin es gewohnt, daß mich Tote besuchen. Sie treten aus den Zimmerwänden, sie wachsen aus den Fußböden, sie kommen aus Schränken und Truhen, sie rumoren im Inneren der Heizkörper: du aber kamst durch die Tür. Du warst immer höflich, dein Leben lang. Ich brachte dir Brot, Speck und Most, denn dankbar sind die Toten für jedes Opfer der Lebenden. Du rührtest nichts an, doch für einen Augenblick schien dein Wurzelgesicht heller. So saßen wir schweigend, du und ich. Als aber der Morgen graute, war ich allein. Leer war der Tisch, unbetreten der Teppich.

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