Oberösterreich, 27. Jahrgang, Heft 4, 1977

Er saß dem alten Flußfischer gegenüber. Es waren nur enge Netze für kleine Fische, hörte ihn Wieser sagen. Unglaublich enge Netze für unglaub lich kleine Fische! Wahrscheinlich läßt sich das, was ich jetzt gesagt habe, überhaupt nicht verstehen, sagte der alte Mann. Wieser überlegte. Er war sich ziemlich sicher, daß er den Flußfischer nicht verstanden hatte. Trotzdem, wahrscheinlich sogar deshalb, sagte er, nichts ist unglaublich! Ich meine, sagte Wieser, besonders in unserer Zeit ist nichts unglaublich. Er erzählte dem alten Mann, was ihm der Baron ein mal erzählt hatte, ohne ihm zu sagen, wer der Baron war. Der Baron, sagte der alte Flußfischer. Er begann weit, schließlich sogar sehr weit zurückzudenken, ohne aber dabei dem Baron zu begegnen. Als er völlig sicher war, den Baron nicht zu kennen, nickte er. Er nickte so, als würde er ihn kennen. Oder doch wenigstens gekannt haben. Ii-gendeinmal. Für den Baron, sagte Wieser, war eine Besonderheit nie eine Besonderheit, sondern etwas völlig Natür liches. Eine Besonderheit, sagte der Baron bei solchen Ge legenheiten, ist das Natürlichste auf der Welt. Ich kenne nichts Natürlicheres als Besonderheiten, sagte der Baron immer. Und ich habe mir das gemerkt, sagte Wieser. Solche Sätze muß man sich einfach merken. Für das Leben, sagte er. Für das eigene Leben! Den Flußfischer erreichten diese Worte, mit denen er ohnehin nichts hätte anfangen können, nicht. Früher, sagte er jetzt, waren sie von weither gekom men, um ihre Netze in das Wasser dieses Flusses zu werfen. Fischer und andere. Viele Namenlose. Die meisten waren namenlos. Aus der ganzen Um gebung kamen sie. Sogar von jenseits der Grenze. Nichts, so schien es, war ihnen zu beschwerlich. Damals sollen die Fische so groß gewesen sein, daß sie mit einem gewöhnlichen Maßband nicht mehr ge messen werden konnten. Das muß man sich sehr genau vorstellen, um darüber reden zu können. Ich kann es mir nicht immer vorstellen, gab der alte Flußfischer zu. Nur manchmal, in den Nächten, in denen für mich, wenn auch nur für Stunden, vieles möglich scheint,. weiß ich es genau, daß es so gewesen sein mußte. Daher versuchte man — ab und zu sage ich, es muß in einer Art „grauen Vorzeit" gewesen sein —, sagte der Flußfischer, für diese ungewöhnlichen Fische un gewöhnliche Maße zu finden. Das war kein leichtes Unternehmen. Nichts, was im Handumdrehen gemacht werden konnte. Lange Zeit, und wie sich später herausstellte, viel zu lange Zeit, waren solche Maße einfach nicht zu fin den. Es schien unmöglich. Damals schien alles un möglich. Als diese ungewöhnlichen Maße schließlich doch ge funden worden waren — an den genauen Tag kann sich heute niemand mehr erinnern —, gab es keine gewöhnlichen Fische mehr. Nicht einen einzigen. Sie waren ausgerottet worden! Der Fluß war leergefischt. Innerhalb kürzester Zeit. Bis auf den Grund. Und ein leergefischter Fluß ist für einen Flußfischer so wenig wert wie ein trockengelegter Fluß. Man kann ihn, man muß ihn sogar vergessen, um auf keine Gedanken zu kommen, die in solchen Situa tionen als abwegig bezeichnet werden müßten. Wenn heute, sagte der alte Flußfischer, vom Fluß ge sprochen wird, schütteln alle, die davon sprechen oder auch nur zuhören, verständnislos den Kopf. Sie schütteln den Kopf so, als wäre er nichts mehr wert, und so, als würden sie versuchen, ihn bei die sem Schütteln zu verlieren. Deshalb, glaube ich, weil er ihnen keine Hilfe mehr sein kann, bei den Ver suchen, wenigstens etwas davon zu begreifen, was mit dem Fluß in Zusammenhang gebracht werden müßte. Stehen sie heute an seinen Ufern, schütteln sie sich am ganzen Körper. Und immer öfter deuten sie mit abwehrenden Handbewegungen in das stinkende Wasser dieses Flusses. In das gelegentlich regenbogenfarbige Wasser, das aber stumpf ist und undurchsichtig. So weit man sehen kann. Man kann nicht mehr weit sehen! Mir ist, sagte der Flußfischer — er sagte es fast aus schließlich zu sich selbst —, als könne man jeden Tag weniger weit sehen. Flußaufwärts, und natürlich auch flußabwärts. Und je weniger weit man sehen kann, umso genauer wird das, was zu sehen ist. Umso genauer und furchtbarer. Diese genaue Furchtbarkeit beginnt — wie ich es oft schon gesagt habe, ohne dabei gehört zu werden, sagte der alte Flußfischer — links und rechts vom Flußufer immer weiter auf die Landschaft überzu« greifen. Sie zu verändern und zu zerstören. Früher, sagen jene, die den Fluß schon lange kennen, fuhr der Flußfischer fort, hatte sich das ganze Land im Wasser dieses Flusses gespiegelt. Alles, jede Einzelheit war zu sehen. In Farben, die genau stimmten. Die Spiegelung erfolgte in den na türlichsten Farben. Ohne Unterschiede. Jahreszeiten brachten keine Veränderung. Ich will nicht danach gefragt werden, was sich heute im Wasser spiegelt. Die Verzweiflung des Flußfischers war jetzt in allen Einzelheiten in seinem Gesicht zu erkennen.

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