Oberösterreich, 19. Jahrgang, Heft 1, 1969

Wilhelm Gotting Der Wohnturm Sein Entstehen und sein Vorkommen im Lande ob der Enns. Pläne vom Verfasser, Aufnahmen; Gangl Schon im römisch unterworfenen Keltenland Gallien kommt, allerdings erst gegen Ende der römischen Herrschaft, eine Art Turmhaus vor (Turm von Autun, Frankreich). Als die germanischen Völker von Norden her in Bewegung kamen, den hölzernen Vorhang (Limes) überrannten und die mittel europäischen Länder überfluteten, war für das steingefügte Turmhaus kein Verständnis vorhanden. In gewohnter Weise verschanzte man sich in Fliehburgen. Nach der großen Völkerwanderung standen die neuen Völker in den neu eroberten Ländern auch vor vielen neuen Pro blemen. Anfangs nur mit dem Holzbau vertraut, lernten sie, hauptsächlich an Hand von übriggebliebenen römischen Bau resten, nach und nach auch den Steinbau zu schätzen. Sie ahmten zwar die römische Steinbautechnik nach, aber nicht deren Bauformen; hier wurden eigene Wege gesucht und auch gefunden. Um die Mitte des 9. Jahrhunderts fielen die Normannen (Nordmannen, Wikinger) in Frankreich ein. Nach vielen Kämpfen behaupteten sie sich und begannen im Gebiete der ehemals römischen Stadt Rotomagus (Rouen) an der Seine mündung zu siedeln. Weil die Zeiten kritisch waren, ent standen neben den ländlichen Gehöften aus Holz gebaute Fluchttürme. Sie standen stets auf einem natürlichen, oder — wenn dieser nicht vorhanden — auf einem künstlich aufge schütteten Hügel, auch Motte genannt. Mit der Zeit fanden die Nordmannen und die Franken zu sammen. Um das Jahr Eintausend hatte der Steinbau, und zwar vornehmlich der Quaderbau, in Mittel- und West europa wieder festen Fuß gefaßt. Um die gleiche Zeit waren auch die Grundformen des romanischen Baustiles geboren und eben zur selben Zeit wuchsen die ersten aus Stein gefügten Wohntürme aus dem Boden. In einem Zeitraum von etwa 150 Jahren hatte sich aus dem hölzernen, ländlichen Flucht turm ein aus Steinen gefügter, manchmal reich ausgestatte ter Wohnturm als Einzelherrensitz entwickelt. Das neue Zeit alter der Ritterschaft begann. Der normannische Herzog Robert II. und dessen Sohn Wil helm landeten in England. Wilhelm gewann am 14. Oktober 1066 die Schlacht bei Hastings und eroberte England. Noch im gleichen Jahr ließ er sich in London als Wilhelm L, der Eroberer, zum König krönen. Er wurde so zum Stifter der englisch-normannischen Dynastie. Unter der neuen Herr schaft wurden auch in England viele wehrhafte Wohntürme errichtet und im Jahre 1077 wurde mit dem Bau des größten normannischen Wohnturmes, des berühmten und berüchtigten Tower in London, begonnen. Seine Grundrißausmaße betra gen rund 36 X 36 m. Bald nach 1090 war der mächtige Bau vollendet. Im Jahre 1061 kamen die Normannen auch nach Sizilien. Ro ger 1. eroberte das Land. Sein Sohn Roger II., König von Sizilien, herrschte von 1101 bis 1154. In diesem Zeitabschnitt wurden auch in Sizilien Wohntürme errichtet. Unter dem lachenden, südlichen Himmel und in Berührung mit den höher kultivierten orientalischen und arabischen Einflüssen büßte der Wohnturm bald seine wehrhafte Funktion ein. Die äußere und innere Neugestaltung nahm palastartige Züge an. In Mittel- und Norditalien bahnte sich bereits im 11. Jahr hundert eine andere Entwicklung an. Besonders im 12. Jahr hundert begannen viele adelige Familien in die Stadt zu ziehen. Für größere Wehrbauten war hier — von wenigen Ausnahmen abgesehen — kein Platz. Ein Wohnhaus und gleich nebenan ein schmaler, hoher Turm als Standeszeichen und letzte Zuflucht ließen sich verwirklichen, mehr eben nicht. In der Regel waren diese aus Stein oder Ziegel gebauten Türme vom oberen Wohngeschoß aus zugänglich. Gegen Ende des 12. Jahrhunderts stehen in den italienischen Städten viele, manchmal Hunderte dieser hohen Familientürme. In der klei nen, vom Verkehr abseits gelegenen Stadt San Gimignano haben sich mehrere Türme dieser Art bis heute erhalten. Mittel- und Süddeutschland trennt sich sehr zögernd von der germanischen Volksburg mit Wall und Graben. Neben einzelnen Wohntürmen entstehen im 11. Jahrhundert kleine Turmburgen. Im Inneren einer mehr oder weniger quadratisch verlaufenden Ringmauer lehnen sich kleine Wohn- und Nutz bauten an. Ungefähr inmitten der Anlage steht der massive, jedoch mäßig große viereckige Fluchtturm mit erhöht liegen dem Eingang. Eine Zugbrücke aus Holz stellt die Verbindung zum nächst stehenden Wohnbau her. In verkleinerter Form steht so die spätere „Deutsche Burg" mit ihren drei Grund elementen Turm,Wohnbau und Ringmauer vor uns. Im Südwesten des damaligen deutschen Reiches, in der heuti gen Schweiz, kommen bald nach der Jahrtausendwende eben falls die ersten Wohntürme vor. Selbstverständlich erreichen die Türme im rauhen Bergland nicht die Größe und Mäch tigkeit wie jene in den fruchtbaren Landschaften Westfrank reichs. Der Turmgrundriß neigt zum Quadrat. Der Turmein stieg liegt manchmal nur wenig, meistens jedoch 3 bis 8 m über dem Erd- oder Felsboden. Das Erdgeschoß ist meistens höher als die Obergeschosse. Des öfteren ist es eingewölbt und nur eine steingefaßte, schliefbare Öffnung führt nach oben.Über dem Erdgeschoß befinden sich zwei oder mehrere be wohnbare Geschosse. Die einzelnen Geschosse sind entweder durch in der Mauer liegende Steinstiegen oder durch hölzerne Leiterstiegen untereinander verbunden. Die frühen Wohn türme sind nur selten mit einer vorkragenden Wehrplatte ausgestattet; später, oft im Zuge eines mäßigen Turmauf baues, wurde ein vorkragender Wehrgang errichtet. Oft stand der Wohnturm innerhalb einer ringförmigen Wall- und Gra benanlage oder, einfacher, innerhalb einer Palisadenumfas sung. Mancher war bereits von einer Ringmauer umgeben. Innerhalb der Umfriedung befand sich oft ein kleiner Stall für ein oder zwei Pferde; auch ein gewisser Futter- und Brennholzvorrat muß unter Dach gewesen sein. Aus dem neu erschienenen Buch „Burgen und Schlösser der Schweiz", Band 3, von Fritz Hauswirth werden für das Thema Wohnturm vier Beispiele entnommen. Ein Bauwerk, das in unseren Rahmen paßt, bildet das „Aarauer Schlößli"; Steckbrief: Grundriß 11,25 X 11,25 m, Mauerdicke 3,50 m, Höhe 25 m, davon die oberen 4 m des Turmes neu, Zwickel mauerwerk mit roh zugerichteten Eckquadern mit grobem Randschlag und Buckeln, Turmeinstieg 12 m über der Erde. Gebaut im 12. Jahrhundert. — „Der Schwarze Turm in Brugg"; Steckbrief: Grundriß 9,30 X 9,30 m, Mauerdicke 2,30 m,Turmhöhe 25,70 m, die untere Turmhälfte besteht aus sorgfältigem Buckelquadermauerwerk, die obere aus Quader mauerwerk nachweislich aus dem Jahre 1535. Die erste Nen nung erfolgte 1238. Ebenso im Aargau steht der „Obere Turm von Kaiser stuhl"; Steckbrief: Grundriß 12 X 12 m, Mauerdicke 2,50 m, Höhe 30 m, Zwickelmauerwerk im unteren, Bruchsteinmauer werk im oberen Teil, die Eckquader sind mit Randschlag

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