Oberösterreich, 14. Jahrgang, Heft 3/4, 1964

ELFRIEDE PRILLINGER Sämtliche Aufnahmen H. G. Prillinger Werke der Nächstenliebe — die oberösterreichischen Kinderdörfer Der Fortschritt eines Landes zeigt sich nicht nur in technischen Dingen und nicht nur in einer perfekten Zivilisa tion; das alles sind äußerliche Gescheh nisse, die nur dann einen bleibenden und in die Zukunft wirkenden Wert gewinnen können, wenn ihnen die Kraft des wahren Geistes zugrunde liegt. Der wirkliche Aufstieg erweist sich dar um erst an der Fähigkeit zu uneigen nütziger Nächstenliebe und trotz der widersprechendsten Erscheinungen hat sich unsere Zeit auch darin bewährt; durch die Kinderdörfer. Es gibt wohl kaum eine Idee in unserem Jahrhundert, die eine so unbestrittene Bewunderung gefunden hätte. Nahezu aus allen Teilen der Welt kommen Be sucher und aufgeschlossene Fachleute, um die Realisierung eines Gedankens zu bestaunen, der seit den Tagen Pestaloz zis nicht mehr aus dem Bewußtsein der verantwortlichen Menschen geschwun den ist: verlassene, heimatlose Kinder in einer Atmosphäre wirklicher Liebe, in einer richtigen Familie also, zu gesunden Menschen heranzuziehen. Woran aber Pestalozzi noch scheitern mußte, am finanziellen Problem nämlich, das hat unsere Zeit (angeregt durch Hermann Gmeiners so selbstverständ lich wirkende Idee) in einer Weise ge löst, daß davon so manche Bedenken über die zunehmende Verrohung der Menschheit wieder zerstreut werden können; eine große Gemeinschaft ver ständnisvoller Menschen schafft alljähr lich die vielen Millionen, die notwendig sind, um die Kinderdörfer zu erhalten. Diese „Erlagschein-Gemeinschaft der Liebe" baut Häuser, gibt Raum und findet Mütter für die verlassenen Kinder — für eine neue,gerettete Zukunft. Von dieser uneingeschränkten Liebe,die ser wahren Caritas, müssen wir re den, wenn wir unsere oberösterreichi sche Besonderheit betrachten: in unse rem Lande haben sich sogar zwei Kinderdorftypen entwickelt, die gerade durch die Verschiedenheit ihrer Zielset zung (in dem einen Fall ist es die Sorge um vernachlässigte, aber gesunde, im anderen Fall um kranke, be hinderte Kinder) das gesamte heikle Problem einer guten Kinder-Fürsorge be wältigt haben. Zwar steht das Kinder dorf Altmünster als oberösterreichischer Vertreter seiner weitverzweigten SOSOrganisation der besonderen Einzel form von St. Isidor, dem Dorf der be hinderten Kinder, scheinbar überlegen gegenüber; in ihrer Tätigkeit aber ver schmelzen diese beiden voneinander un abhängigen Institutionen zu einer sehr erfolgreichen Einheit und erfüllen ge meinsam ihre große Aufgabe, die in un serer Zeit des Konsums und der hek tischen Bewegung nur zu leicht in den Hintergrund geschoben werden könnte. Je schneller nämlich der Rhythmus einer Zeit ist, umso mehr sind jene Gruppen der Menschheit gefährdet, die nicht ohne die Hilfe der Gemeinschaft existieren können. Wer aber braucht jemals un sere Hilfe notwendiger als die Kinder, deren ganze Zukunft abhängt von den Verhältnissen, in denen sie aufwachsen? Kinder brauchen Leitung und Unter stützung, damit sie aus ihrer Welt der Phantasie allmählich hinüberfinden in die reale Welt der Erfahrungen, der Härten, der Bewährung. Nur eine ruhige Umgebung im Zeitabschnitt ihrer gei stigen Entwicklung gibt ihnen jene ge sunde Atmosphäre, die sie notwendig haben, um innerlich und äußerlich ohne wesentliche Enttäuschung heranwachsen zu können. Sie brauchen eine behut same Einführung in die verwirrende Welt, sollen sie nicht später zum beschämenden Strandgut des Lebens gehören: verkommen, verspottet, ver wahrlost. Nur einem Bruchteil der bitteren Schick sale, welche seit langem die Idee der Kinderdörfer herausforderten, begegnen wir in Zeitungsnotizen, und schon diese wenigen Nachrichten sind erschütternd genug. Das ganze Ausmaß der Not ist aber immer noch viel, viel größer, als wir erfahren, und wir müssen erkennen, daß es heute schon eine sehr große Anzahl solcher Kinder gibt, die, hinaus geworfen aus der Bahn einer ruhigen Entwicklung, dem anspruchsvollen Le ben unserer Zeit heimatlos, hilflos und haltlos gegenüberstehen würden, gäbe es nicht die segensreiche Einrichtung der Kinderdörfer, die ihnen die verlorene Sicherheit wiederzugeben trachtet. Zahlen sind kalt, wenn wir sie einfach als Summen verstehen — aber sie spre chen eine eindringliche Sprache, wo wir einen Blick hinter die Fassaden wagen: einhundertvierzig Kinder in A11m ü n s t e r bedeuten in Wahrheit ebenso viele einzelne schwere Schicksale, sie bedeuten hundertvierzigmal Tränen, Leid, Angst, Verwirrung in einem Aus maß, das wir uns nicht vorstellen können, wenn wir nicht selbst davon betroffen sind. Oder in St. Isidor zweihundertsechzig Kinder — zweihundertsechzigmal Abnormität in irgendeiner Weise, vielleicht Muskel schwund, Lähmung der Gliedmaßen, Taubstummheit; unzählig sind die Namen,die eine schwere konstitutionelle Behinderung bezeichnen können, welche das Kind zu einem Krüppel macht und die Angehörigen mit einer lebenslangen Sorge belastet. Noch bitterer ist das Bild im Institut St. Pius in Peuerbach, das dort zur Entlastung von St. Isidor gegründet wurde und im Rahmen der Möglichkeiten sich auch noch zu einem richtigen Dorf entwickeln wird: hierleben hundertfünfunddreißig arme Kinder, deren geistiges Niveau nicht mehr für St. Isidor ausreicht, debile, mongoloide,Schwerstbehinderte Kinder; hundertfünfunddreißig Schick sale, nicht auszulöschen und dennoch hart genug, um jeden Mut zu ver lieren. Aber die Mütter in den Kinderdörfern und die Schwestern in St. Pius verlie ren ihn nicht. Und die Zeit gibt ihnen recht. Altmünster Am Westrand der Stadt Gmunden fin den sich verschiedentlich Richtungswei ser „Zum Kinderdorf"; sie sind nicht von ungefähr aufgestellt, denn fast all täglich kommen Besucher, die das Kin derdorf Altmünster, seine Einrichtung, seine Häuser und die Kinder und Müt ter, die darin leben, sehen wollen. Men schen von überall her möchten eine ge segnete Idee in ihrer Wirklichkeit er leben; Autos mit den verschiedensten Kennzeichen stehen auf dem kleinen Parkplatz am Eingang des Dorfes. Und das Dorf repräsentiert sich gut. Es zeigt sich, wie es ist, und die Kinder be wegen sich durchaus nicht wie in einer Ausstellung, wenn fremde Menschen plötzlich in das Wohnzimmer treten und sich darin umsehen, wenn sie dann noch durch die Schlafzimmer gehen und einen Blick in die Küche werfen. Die Buben und Mädchen des Kinderdorfes Altmün ster sind dabei ganz so wie andere Kinder auch: die einen verschwinden lautlos, die anderen verstecken sich hin ter der mütterlichen Kittelfalte und die Mutter bückt sich — wie jede Mutter in jedem Land der Erde bei einem uner23

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