90. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr 1972/73

Bedarf . Unter jedem Aspekt hat die Gesellschaft ein anderes Gesicht und ihre Tendenzen sind - wie sich zeigt - nicht nur mannigfaltig , sondern oft genug auch widersprüchlich in sich . Wie soll die Schule den Ansprüchen der Gesellschaft begegnen? Durch An- passung oder durch Widerstand? So stellte Schelsky noch vor 10 Jahren die Frage in einer seiner viel gelesenen Schriften . Aber die Fragestellung war, wie wir heute deutlicher erkennen , nicht richtig ; sie simplifizierte die Probleme unserer komplexen Verhältnisse und verwirrte damit den Blick. Klarer sehen wir heute, daß die Schule zwei Aufgaben zu lösen hat: Es geht einerseits um die Entfaltung der Kräfte in dem heranwachsenden jungen Menschen und andererseits um die Vorberei tung auf die Gesellschaft, in der dieser junge Mensch einmal leben und tätig sein wird ; ander,s ausgedrückt, es geht um den Menschen als Person und als soziales Wesen . Es hat Zeiten gegeben, in denen nur eine der beiden Aufgaben anerkannt wurde: für Wilhelm von Hum- boldt war es die erste Aufgabe, die Selbstverwirklichung des Individuums ; in den totalitären Systemen der Gegenwart ist es fast ausschließlich die zweite, die sozialpolitische. Aber unse re moderne europäische Gesellschaft be- müht sich die beiden Aufgaben , die sich in der konkreten Situation des Schul- alltags nicht selten widersprechen und den Lehrer vor schwierige Entschei- dungen stellen , in einen Ausgleich oder besser gesagt in eine fruchtbare Spannung zu bringen . Es geht um das Recht des einzelnen auf sich selbst, das immer wieder eingeschränkt wird durch die Ansprüche der Gesellschaft, die ihn trägt und ihm das Leben ermöglicht. Schule in Frage gestellt In den großen Planungen der westlichen Welt zeigt sich der Widerstreit der Tendenzen am deutlichsten. In den 1 ½ Jahren seit Sommer 1970 hat die Bund-Länder-Kommission einen Bildungsgesamtplan ausgearbeitet, der zwar noch nicht fertig ist, aber doch schon die Umrisse eines künftigen Schul- aufbaues erkennen läßt. Hier wird nicht nur mit einer bislang unvorstell- baren Expansion der Gymnasien und Hochschulen gerechnet, sondern es werden auch neue Ausbildungsgänge angeboten ; andere Au,sbildungsgänge werden verl ängert, Schulen , die bisher im Schulbereich endeten , werden bis zur Hochschule hinaufgezogen ; ein System der Weiterbildung wird das Leben des Erwachsenen begleiten ; man überlegt , ob das Einschulungsalter auf das 5. Lebensjahr vcrverlegt werden soll. ,, lebenslanges Lernen " heißt das voll- tönende Grundthema. Bei der zunehmenden Verwissenschaftlichung aller Lebensvorgänge haben diese Vorstellungen zweifellos ihren Sinn. Aber selbst dem, der sich ein Leben lang für die Aufwärtsentwicklung der Schule ein- gesetzt hat , wird bange vor so viel Schule und es könnte ein Alptraum werden , sich vorstellen zu müssen , welches Netz von Schulung sich über unser Leben einmal ausbreiten wird, in dem wir wie Fische zappeln. lebens- langes Lern zn? - ja, aber nicht lebenslange Schule! Schon heute sind in den USA 30 0/o der Bevölkerung entweder Schüler oder Lehrer; und aus einer Dokumentation des Europarates geht hervor, daß bis zum Ende unseres Jahrhunderts bei Erfüllung aller Pläne 40 0/o der Berufstätigen im Lehrbetrieb tätig sein müßten . Wem schwindelt da nicht? Wäre es nicht besser, zunächst das vorhandene Schulwesen so auszustatten , wie es längst nötig ist, und erst wenn diese Vervollkommnung gesichert ist, seine weitere Ausdehnung zu betreiben? Schon mehr Lehrer und kleinere Klassen zu haben, wäre eine Reform, die sich sehen lassen kann, und gerade diese Hof,fnung wird durch ungehemmte Expansionen immer wieder vereitelt. Kann es verwundern , daß das Pendel bereits nach der anderen Seite aus- schlägt? Ivan lllich, der Schulreformer Mittel- und Südamerikas, Österreicher von Geburt, hat mit seinen Aufsehen erregenden Schriften einen Feldzug ge- gen die Schule und ihre Perfekt ion angetreten , und die Wellen seiner Bewe- 80

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