90. Jahresbericht des Bundes-Realgymnasiums Steyr 1972/73

Das Gymnasium im Widerstreit gesellschaftskritischer Tendenzen Ministerialdirigent a. D. Dr. Ernst Höhne Schule und Gesellschaft Die derze itige Situation des Gymnasiums ist eindeut ig : Es befindet sich im Kreuzfeuer der modernen Gesellschaftskritik. Bei einer Institution, die so offensichtlich Einfluß nimmt auf die Entwicklung des jungen Menschen und damit bestimmend ist für die geistige Qualität der kommenden Generation , kann das nicht anders sein. Vor den Ansprüchen dieser Kritik ist das Gym- nasium aufgerufen, sich zu verteidigen und seine Wirkungsweise zu verant- worten . Mancher, der das Gymnasium liebt , als ehemaliger Schüler oder im Hinblick auf seine Kinder, bedauert diese Situation, aber bei genauerem Überlegen muß er zugeben , daß sie auch ihr Gutes hat. Denn der Prozeß , der dem Gymnasium gemacht wird und der es vor ein öffentliches Tribunal bringt, zwingt seine Anwälte zu einer Überprüfung seiner geistigen Fundamente, und diese Besinnung kann ihm nur nützlich sein. Wenn mir die Landeselternvereinigung für die Jahresversammlung 1972 die inhaltsschwere Frage gestellt hat: ,.Wo steht das Gymnasium heute?" so kann ich zunächst nur ganz allgemein mit dem Thema meines Vortrages ant- worten: Es steht im Widerstreit der Tendenzen, durch die es von einer aggre- siven Gesellschaftskritik herausgefordert wird . Dieses Ausgesetztsein wird uns nicht verwund ern , wenn wir - parallel zur Erz iehungswirklichkeit - die Entwicklung der Erziehungswissenschaft ver- folgen, die sich in einem Ausmaß wie noch nie der sozialwissenschaftlich- kritischen Methode bedient. Die Pädagogik war von jeher an andere stärkere Wissenschaften gebunden: War es jahrhundertelang bis weit in die Neuzeit hinein die Theologie, auf der sie fußte , so war es im 19. Jahrhundert die Philosophie - man denke an den Einfluß Hegels - , in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das sich schon früh als das Jahrhundert des Kindes an- kündigte, hat die Psychologie ihre Kontrolle ausgeübt, und wir selbst haben noch erlebt, wie diese in der Mitte unseres Jahrhu nders von der Sozial- wissenschaft in ihre r Führungsrolle abgelöst wurde. Was in der amerikanischen Erziehungswissenschaft seit John Dewey gilt, ist in Deutschland erst seit ver- hältnismäßig kurzer Zeit für jedermann sichtbar geworden: Die tonangeben- de Stimme in der pädagogischen Wissenschaft führt die Soziologie. ,. Schule und Gesellschaft " ist das zentrale Thema der Pädagogik geworden. Wohl würden viele Lehrer und ebenso viele Eltern die Schule gern in einem Freiraum sehen , in dem sie sich unabhängig von den Zeitläufen und ungestört von äußeren Einflüssen bewegen kann. Aber die Gesellschaft übt ihren Einfluß auf die Schu le aus, ob wir es wollen oder nicht. Die Wel t ist auf Verwandlung angelegt: Die Gesellschaft erneuert sich und wir mit ihr und die Schule ist von diesem Gesetz nicht ausgenommen. Mancher will das nicht wahrhaben und ist geneigt zu glauben, daß die Schule in die Vorhöfe der Ge- sellschaft gehört und gewissermaßen außerhalb der Gesellschaft existiert. Aber Schule ist eine Funktion der Gesellschaft, und zwar ist sie das von jeher ge- wesen. Wenn das früher nicht erkannt wurde, so kam es nur daher, daß uns die gesell schaftlichen Vorgänge erst in jüngster Zeit bewußter geworden sind ; wir beobachten sie - entweder passiv als Betroffene oder aktiv mit der Absicht, sie zu steuern. Nun ist unsere moderne Gesellschaft sehr vieldeutig geworden . Man spricht von einer Industriegesellschaft, einer Wettbewerbsgesellschaft , einer Leistungs- gesellschaft , einer pluralistischen Gesellschaft und wechselt die Begriffe nach 79

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