9. Jahresbericht der k. k. Realschule in Steyr, 1879

27 Pflegt man ja doch so gerne, und sicherlich nicht ohne volle Berechtigung, die Jugend die Hoffnung des Vaterlandes zu nennen; man weiss, dass von ihr grossenteils die Gestaltung der Zukunft des Vaterlandes, der nächsten Generation abhängt. So lehrt uns denn auch die Geschichte, dass von jeher die grössten Staatsmänner und die bedeutendsten Geister auf eine verständige Erziehung der Jugend und auf eine den jeweiligen Bedürf¬ nissen und Fortschritten der Zeit entsprechende Einrichtung der Schulen das grösste Gewicht, den höchsten Wert gelegt haben. Gute Schulen waren und sind noch jetzt ein Stolz jeder Gemeinde, jedes Staates. Wer die Jugend hat, hat auch die Zukunft. Kann diesem Ausspruche eine gewisse Berechtigung sicherlich nicht abgesprochen werden und gilt derselbe von der Jugend überhaupt, so gilt er doch besonders von dem Teile derselben, der sich dem Studium der höheren Wissenschaften widmet und so einen mehr oder weniger bestimmenden Einfluss auf das Wohl des Vaterlandes auszuuben einst berufen sein wird. Der Geist regiert die Welt, nicht die rohe Kraft; Geistesbildung und Geisteskraft, verbunden mit religiösem Sinn und Sittlichkeit, sind es, denen mit Recht die Herrschaft zugestanden wird. l'nd was ist es denn, Jünglinge, was Seine Majestät, was das Vaterland von Ihnen erwartet und hofft? Die erhebende Feier des heutigen Tages, wie nicht minder die Festesstimmung, die uns alle so mächtig ergriffen hat, sind wol recht dazu geschaffen, dass wir bei diesem Gedanken einige Augenblicke verweilen. Das Vaterland erwartet und hofft zuerst von Ihnen Tüchtigkeit des Wissens und der Bildung. Auf dem Gebiete des Geistes sollen Sie dereinst tätig sein und dem Vaterlande nützen. Gründliches, tüchtiges Wissen in dem Berufe, den Sie sich gewählt, allseitige, umfassende Ausbildung der Ihnen verliehenen geistigen Gaben und Kräfte sind aber die Grundbedingungen für ein erfolgreiches Wirken in Ihrem Berufe. Das Vaterland hofft und erwartet ferner von Ihnen Reinheit der Gesinnung und des Lebens. Jeder Staat, jedes (emeinwesen ist auf Sittlichkeit gegründet, ohne sie ist sein Bestehen unmöglich. Die meisten von Ihnen sind im Laufe ihrer Studien an dieser Anstalt mit den diesbezüglichen Lehren der Geschichte wol hinlänglich bekannt geworden, um die Richtigkeit dieses Satzes sofort in hundertfaltigen Beispielen beweisen zu können. Die mächtigsten Staaten waren unrettbar verloren, selbst das weltbeherrschende Rom war dem Verderben preisgegeben, sobald die Sittlichkeit der Bürger untergraben war. Das Vaterland erwartet und hofft endlich von Ihnen Festigkeit des Willens und des Charakters. Lassen Sie nie den Geist der Lüge in ihren Herzen aufkommen, erhalten Sie sich stets rein und ungetrubt die Ihnen durch die Schule und das Elternhaus vermittelten sittlichen Grundsätze von bleibendem und allgemeinem Werte und so auch das kostbarste Gut der Jugend, den Frieden Gottes, welcher zugleich die Reinheit der Sitte und des Herzens zur Voraussetzung und zur Folge hat. „Wohl dem, der rein von Schuld und Fehle Bewart die kindlich reine Seele.“ Das ungefahr wären in kurzen Cmrissen die Forderungen, welche das Vaterland an Sie, studirende Jünglinge, zu stellen berechtiget ist, was es von Ihnen hoffen und erwarten darf; das ist aber auch der herzinnige Wunsch Seiner Majestät unseres Kaisers, dem im vollsten Masse zu entsprechen Sie stets für Ihre heiligste Pflicht erachten werden. Wie aber werden Sie diesen Anforderungen des Vaterlandes am leichtesten genügen können? Diese Frage kann in den kurzen Worten beantwortet werden: Wenn Sie dem Vaterlande dankbare, tätige Liebe widmen. Vaterlandsliebe, dankbare Liebe zum Vaterlande, —sie ist ein so natürliches Gefühl, dass wir sie allgemein, zu allen Zeiten, bei allen Völkern finden. Doch diese dankbare Liebe darf kein blosses Gefühl bleiben, sondern sie muss zur Tat werden, dann erst ist sie wahrer Patriotismus. Wenn es für den Griechen der höchste Ruhm war, für das Vaterland zu sterben, wenn der Römer unter dem freudigen Rufe: „Dulce et decorum est pro patria mori“ sein Leben gerne

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