9. Jahresbericht der k. k. Realschule in Steyr, 1879

16 Das würde, Sandras ausgenommen, dessen Fehler es ist, überall französischen Einfluss nachweisen zu wollen, wol niemand eine „Aneignung“ genannt haben. Der Vergleich zwischen dem wechselnden Glücke und dem tückischen Meere ist ein den Dichtern aller Zeiten und aller Völker so ge¬ meinsamer und naheliegender, dass ihn Chaucer sicher nicht aus dem Re¬ méde de Fortune zu holen brauchte. Die fraglichen Stellen aus dem Roman de la Rose citirt Sandras nicht, daher ist dieser Behauptung keine Bedeutung beizulegen. Was endlich das Lied des Eustache Deschamps betrifft, so haben wir es in den uns zu Gebote stehenden Werken von Deschamps* nicht gefunden und sehen uns demnach äusser Stande, die Bemerkung Sandras’ zu controlliren. XIV. The Compleynte of Chaucer to his Purse.2) Im Sommer 1399 gelangte Heinrich IV. auf den englischen Thron. Chaucer war Zeit seines Lebens vom Hause Lancaster protegirt worden und war wol dem neuen Monarchen persönlich bekannt. Seine Geldverlegenheiten mussten in dieser Zeit ärger als je gewesen sein, und so wandte er sich, im September ungefähr, im vorliegenden Ge dichte an Heinrich IV. Dasselbe ist in Balladenform geschrieben. Das fünfzeilige Geleite hat die Reime a a bb a. Der Inhalt ist wie folgt : Dir, meine Börse, klage ich, und niemand Anderem, denn Du bist meine teure Gebieterin ! Ich bin traurig darüber, dass Du nun so leicht wiegest, und, gewiss, wenn Du Dich nicht füllest, ist mir der Tod erwünscht. Da¬ rum flehe ich Dein Mittleid an: Sei wieder schwer, sonst muss ich sterben! Möge ich baldigst3) Deinen segensreichen Klang hören oder Deine der stralenden Sonne gleiche Farbe schauen, die an Goldigkeit ihres Gleichen nicht hat! Du bist mein Leben, Du bist meines Herzens Steuer! Königin des Trostes und gute Gesellin, sei wieder schwer, sonst muss ich sterben! Nun, Börse, Du meines Lebens Licht und Erlöser in der Welt, hilf mir durch Deine Macht aus dieser Stadt,*) wenn Du nicht meine Schatz¬ kammer sein willst; denn ich bin kal wie ein Bettelmönch. Aber ich wende mich an Deine Geneigtheit: Sei wieder schwer, sonst muss ich sterben! ’) Deschamps Eustache, Poésies morales etc. Paris 1831—33 in 4 °. — Oeuvres inédites, Reims 1849 in 8 °. 2) Morr. VI, 294. 3) Das soll wol durch „this day or hyt be nyghte „ausgedrückt sein: „heute (noch) oder in der Nacht“. *) D. i. London. Diese, soviel wir wissen, bisher ganz unbeachtet gebliebene Stelle scheint die Ansicht, dass Chaucer in seiner letzten Lebenszeit sich nach Woodstock oder Donington zurückgezogen habe, zu bestätigen. Dann wäre er ungefähr 1398 nur zur Betreibung seiner Interessen nach London gekommen. Diese hielten ihn bis 1100 daselbst fest, und er wurde vom Tode heimgesucht, ohne dass sein Wunsch „Oute of this toune helpe me thurgh your myght“, in Erfüllung gegangen wäre.

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