Zum 100. Geburtstag von Enrica Handel-Mazzetti

als wollte Handel-Mazzetti sich gegen runchristliche Anschauungen auch ihrer Zeit wenden. Denn natürlich standen hinter ,dieser W,endung die antikirchlichen Bewegun- gen der Gegenwart, von denen sie in „Ritas Vermächtniis" ja die Freimaurerei direkt vorführte. Drei Hauptthemen ergaben sich von ,selbst aus den religiösen Gegensätzen: die Bekeh- rung, das Martyrium, der Opfertod und die Gottesbrautschaft. In verschiedener Ein- bettung werden diese Themen immer wieder abgewandelt, nachdem sie schon in dem zunächst zurückgestellten Roman „Brüderlein und Schwesterlein beherrschend hervor- getreten waren. Ja eigentlich hat sich darin Handel-Mazzettis Thematik bereits er- schöpft, sie wußte nur diese ihre Grundprobleme mit wechselnder Konstellation immer wieder zu variieren. Und dabei half ihr die Geschichte. Natürlich lassen sich überall und immer wieder frauliche Züge, besser gesagt Züge der unverheirateten, kinderlosen Frau aufspüren. Es soll hier k,ein Versuch einer Psychoanalyse gemacht werden, aber auf einiges sei doch hingewiesen. M,itleid, Opfer- bereitschaft, Hingabe seiner selbst, treue Erfüllung einer Aufgabe, tiefe Religiosität, Auffassung der Kunst als apostolische Wirkrsamkeit, aber auch merkbare Störungen, die sich in Überschwenglichkeit, über-steigerung, ja Überhitzung des Gefühls.Jebens äußern. Dechant Dobner in Maüa Taferl hat das als erfahrener Priester bereits durch- schaut98. Naivität tin erotischen Dingen° 0 , Mangel an solchen Szenen, Neigung zur Verniedlichung und Verkindlichung (überhäufige V,erwendung von Diminutiven!), Liebe zum Kind in der Phantasie, die Kinder werden so gezeichnet, wie siie in Wirklich- keit meist nicht sind. Für stie ist das Kind nach vor-Freudischer Auffassung noch der unberührte Engel, wie er aus Gottes Hand hervorgeht. Die Sehnsucht der Kinderlosen iist manchmal zu .spüren. Merkwürdig bleibt bei ihrem hohen Bildungsgrad eine gewisse Unsicherheit im Urteil, besonders auch literarischen Erzeugrussen gegenüber. Gesin- nung und sittliche Haltung sind für ,sie da meist entscherdend. Aber vielileicht war es manchmal auch der Wunsch, nicht zu verletzen, wenn sie allerlei an .sich herankommen ließ, was über gute Absicht nicht hinausreicht,e, wie ,so vieles fromme Schrifttum. So erschien ihr Urteil oft befangen und viel mehr von anderen ,al,s künstlerischen Gesichtspunkten bestimmt. Ihre Veranlagung ließ sie Gebilde ihrer künstlerischen Phantasie greifbar vor sich sehen. Zu dieser optischen Fähigkeit gesefüe •sich aber auch ,eine ,akusHsche, die sie nicht nur Musik lieben und ausüben ließ, sondern ihr auch ein feines Ohr für das Hör- bare der Sprache verlieh, so daß es ihr möglich war, die Gestalten iihrer Dichtung sich durch ihre Sprache charakterisieren zu lassen und sie mehrfach auch fremde Mundarten wie eine fremde Sprache lernt, besondeDs für jene Romane, die außerhalb Österreichs spielen. Aber auch österreichische Mundarten weiß sie in ihren Schattierun- gen wiederzugeben bis zu jener eindrucksvollen Gestalt des alten Franzmeier in ,,Frau Maria". Und sie vermochte sich so in die Sprache vergangener Zeiten einzuleben, daß sie aus ihr her,aus dichtete und man zuweilen tatsächlich zweifeln kann, ob ein altes Gedicht, ein Schriftstück von ihr übernommen oder neu gedichtet wurde, etwa die Verse, mit denen der tote Dichter Günther in jener Vison in Maria Taferl sie ab- mahnt, ihn zum Helden einer Dichtung zu machen 100 • über ,ihre Fähigkeit, historisch zu schauen, hat ,sie •selbst mehrfach berichtet 101 • ,,Diese meine Schauungen sind rein menschlicher Art und betreffen natürliche Ge- schehnisse. Bei mir ist dies Sehen ein dichterisches Erlebnis." Dieses Schauen, ohne das es keinen Dichter gebe, ruft ihr auch Vergangenes, Versunkenes zauberhaft ins Leben. Darum fühlt sie auch mit den Gestalten ihrer Dichtung so stark mit, daß sie oft viel darunter zu leiden hat 102 • So e11scheint es begreiflich, daß die Reflexion von ihr nie lange Besitz ergreift 103 • Es ist aber auch verständlich, daß s,ie bei ,so intensivem Miterleben ihre Kräfte erschöpft und daß jedem größeren Werk eine oft längere Er- krankung folgt. Sie scheint eine Eidetikerin gewesen zu sein. Sie träumt eine Szene des ,Deutschen Helden' Wort für Wort, die dann spät-er freilich geopfert werden mußte 103 a. Bei der Konzeption ihrer Werke fühlt sie sich im Banne ,einer höheren Macht 104 wie in Trance 105 • Erst beim Schreiben verhält sie ,sich kritisch zu ihren Visionen. Die stärkste Kraft for,dem immer die „Passionsszenen" •im weiiteren Sinn 1 0 6 . Über ihre Art zu schaffen, gesteht sie: ,,Die Träger der Handlung werden mir zuerst plastisch, dann erst kommt die Handlung selber . . . Ich konstruiere niemals eine Handlung, meine Handlung muß jmmer das Resultat aus den Charakteren sein. Oft rennen mir ,diese ,die Handlung über den Haufen und ich habe das im Interesse der 40

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