Oberösterreichischer Volkskalender 1928

,,Hier wahrscheinlich heute schon," bemerkte meine Großmutter. „Ach was!'" unterbrach sie ihr Mann. ,,Bis die Bewegung sich hierher durcharbeitet, kann es noch lange dauern. Uebrigens, je eher, desto besser! Ich habe aus meiner demokratischen Gesinnung nie ein Hehl gemacht. Du doch auch nicht, Barbara?" Seine Schwägerin Barbara stimmte ihm indessen nicht bei, sondern holte unter dem Kanapee eine mächtige Schützenbüchse hervor. ,,Bist du verrückt geworden, Barbara?" ,,Nein, aber die Rebellen laß ich mir nicht auf den Leib kommen!" „Und ich werf' ihnen Sand in die Augen," rief Miekäthchen, die alte Nähjungfer, und griff beherzt und ohne Empfindlichkeit in den wohlgefüll- ten Spucknapf. , „Sie lassen das Kind noch fallen, Miekäthchen, geben Sie mir die Kleine wieder!" „Nein, Frau List, das Kind geb' ich nicht her. Den unschuldigen Wurm tun die Rebellen nichts. Und habe ich das Kind auf den Armen, dann tun sie mir auch nichts." „Aber, was ist denn nur los, Henrike?" wandte sich mein Großvater an meine Großmutter. „Die Bauern aus der ganzen Herrschaft sind heute morgen vor der Stadt zusammengekommen. Die Wiesen am Eichküppel waren schwarz von Menschen. Die Riedesel waren ja so dumm, das Jahrholz zu verwei– gern. Jetzt werden die Bauern das Burgschloß stürmen." „Eigentlich haben die Bauern recht," bemerkte mein Großvater. ,,Ein schönes einiges Deutschland! Sechsunddreißig Tyrannen! Und hier im kleinen Hessenländchen neben dem Darmstädter Oberdespoten noch die Riedesel und ihre eingebildete, bornierte Beamtensippschaft als Unter– tyrannen. Alles kurz und klein schlagen sollten die Bauern. Aber freilich, Ungesetzlichkeiten müssen vermieden werden. Wir ruhigen Bürger müssen die Leute vor Unklug~eiten warnen. Wo ist denn mein Bruder Theodor?" „Auf dem Rathause," fiel Barbara ein. ,,Warum hat er sich auch in den Gemeinderat wählen lassen! Schon seit früh 9 Uhr sitzen sie zusammen, und der kleine Theodor, der Schlingel, den ich nach ihm geschickt habe, ist auch noch nicht zurück." „Ich lege nur die Reisekleider ab, dann gehe ich in die Stadt," sagte mein Großvater gutgelaunt und stieg in den zweiten Stock empor. '1Der dro– hende Bauernputsch schien ihm eine angenehme Abwechslung zu bringen. Kaum hatte sich mein Großvater, gefolgt von der Großmutter, entfernt, da betrat eine wunderliche Gestalt den weiten steinernen Estrich, den man damals mit einem schönen alten Worte noch den Ehrn nannte. Die Gestalt trug enge Nankinghosen, einen blauen Frack mit gelben Knöpfen, einen riesigen Vatermörder und eine große schwarze Tuchkappe, aus der wirre, weiße Locken hervorguckten. Das bartlose Gesicht belebte eine Horn– brille. Der alte Herr war Onkel Georg Friedrich, der Bruder meiner Urgroß– mutter. Er hatte niemals ein medizinisches oder chirurgisches Examen bestanden, aber dennoch die Praxis seines Bruders übernommen, der sie wiederum von dem Vater ererbt hatte. Wie der Sohn vom Vater das Schnei– derhandwerk lernt, so hatte Georg Friedrich die Chirurgie und die Medi– zinerei in der Familie gelernt. Aber die Bauern vertrauten ihm. Er genoß bei ihnen eine ähnliche Verehrung wie der Medizinmann bei den India– nern. 77

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