Oberösterreichischer Volkskalender 1928

,,Vergnügen? ... Was gäbe ich darum, wenn ich hier bleiben könnte, aber man erwartet mich mit Bestimmtheit." Sie trat in das erleuchtete Zimmer: ,,Gehe nur ruhig, Heinz, es ist viel– leicht ganz gut, wenn ich jetzt mit mir allein bin ..." ,,Und du bist mir nicht böse?" „Nein, wirklich nicht. Nun lasse aber deinen Freund nicht länger warten, wir sehen uns ja morgen wieder." Er atmete sichtlich erleichtert auf: ,,Natürlich, Liebling, morgen und jeden Tag ..." Noch ein Handkuß, und er war verschwunden. Ellen trat an ein Fenster und sah dem fortfahrenden Auto nach, bis es ihren Blicken entschwunden war, dann kehrte sie kühl und ruhig - wie immer - in den Saal zurück. - Der Zauber war gebrochen. * Fünfzehn Jahre später sitzt eine schlanke Frau in einem pfirsichfar- benen weichen Hauskleid in einem mit auslesensten Geschmack ausge– statteten Wohnzimmer am Klavier. Durch das offene Fenster strömt der betäubende Duft einer schwülen Sommernacht herein. Leise gleiten die schlanken finger über die Tasten, fast unhörbar quillt eine Melodie her– vor . . . Traurig ist der Blick der schönen dunklen Augen. Enttäuschung verhaltener Schmerzen umzucken den feinen Mund. Da wird geräuschlos die Tür geöffnet und ein Mann tritt mit müden Schritten in das Zimmer. Eine Zeitung knistert in seiner Hand, während er sich seufzend in einen Sessel fallen läßt. „Eine unerträgliche Hitze," stöhnt er, ,,und natürlich absolut nicht für Kühlung gesorgt." Er fächelt sich mit dem Taschentuch energisch Luft zu und Frau Ellen unterbricht ihr Spiel: ,,Aber die Fenster sind doch weit auf, Heinz." ,,Das ist es ja eben .. da kann die Hitze ungehindert herein." Er entnimmt seinem Etui eine Zigarette und breitet die Zeitung aus. Schweigend betrachtete ihn seine Gattin, ihre Augenbrauen ziehen sich unwillig zusammen, dann setzt sie ihr Spiel fort, mit leiser Stimme die Melodie mitsummend. Als sie geendet, der letzte Ton erstorben, faltet Heinz seine Zeitung zusammen. ,,Ein nettes Lied, Ellen, wie heißt es?" ,,Es heißt Mattinata," entgegnet sie gleichgültig. ,,Mattinata?" Was für komische Titel diese modernen Songs haben." ,,Es ist eine Serenade ... kein moderner Song." ,,So? Ich dachte nur, weil mir die Melodie so fremd vorkam ..." ,,Es ist sehr lange her, seit ich es gesungen habe." Er warf die Zigarette beiseite. „Ach so, darum erschienen mir die Töne so fremd. Man erinnert sich doch immer nur an Ereignisse, die eine gewisse Bedeutung haben. Weißt du, ich werde nie vergessen ... den Abend, als wir uns verlobten, spielte ich im Klub und hatte fabelhaftes Glück. Ich könnte dir noch jedes Spiel einzeln schildern ... Nicht wahr, ein gutes Gedächtnis?" ,,In der Tat, ich muß dir mein Kompliment machen " Ellen schloß das Klavier und trat an das Fenster. ,,Die Psychoanalytiker behaupten, daß man sich stets der Dinge er– innert, die uns am meisten interessieren." „Von diesen neuartigen Wissenschaften verstehe ich nicht viel, aber es wird wohl so sein." 74

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