Oberösterreichischer Volkskalender 1928

zwar nicht sehr glaubhaft finden mochten, während sie sich dennoch in Mitleid dem armen, verzweifelten Mädchen zuwandten, da ohnedies die Witwe Romigny nicht die beliebteste Nachbarin war. Und bei diesem passiven Mitleid wäre es vielleicht geblieben, wenn nicht die hagere Meisterin selber ihr Schicksal sozusagen an den Haaren herbeigezogen hätte. Sie war bis zu diesem Augenblick unsichtbar geblieben, aber als jetzt die Stockknechte, nachdem sie den entblößten Körper des Elsässers auf der Schranne festgebunden hatten, mit ihren Lederpeitschen ihre Arbeit begannen, daß der Gepeinigte unter ihren Streichen sich krümmte und die Schranne sich rötete von Blut, da sah man sie plötzlich zum offenen Fenster herausliegen und dem Martergeschäft zuschauen mit gierigen Blicken, in denen - die Landsleute des Herrn Marquis de Sade verstanden sich darauf - noch andere Gefühle als die befriedigte Rachsucht hervorglühten. Hätte sie noch wenigstens geschwiegen; aber sie schrie: ,,Nun drescht ihn nur tüchtig! Fester, immer fester!" Da erklang im Haufen das Wort .,,Megäre" .• Und hundertfach wiederholte sich's. Und verwandelte sich auf den Zungen in noch schlimmere Worte, in schmutzige, unflätige Namen. ·Und Steine flogen und Fenster splitterten und in wenigen Sekunden hatte sich die lethargische Menge wie in einen Vulkan verwandelt, denn es war dasselbe Volk, das so oft schon im großen und kleinen sich von der auf– brausenden Gewalt seines Gefühles zu unglaublichem Tun hatte fort– reißen lassen. „In's Wasser mit dem Luder! Ersäuft sie!" Sie schrien es schon ni"cht mehr, sie brüllten es. Man hatte die Romigny aus ihrem Hause hervorgezerrt, und nun wurde sie in eine leere Kutsche geschoben, Handwerkerhände verknoteten die Türverschläge, andere faßten die Deichsel: ,,In die Seine mit ihr, in die Seine!" Und noch ganz .anders als wie so oft an Abenden eine berühmte Schauspielerin, nachdem sie das Parterre bis zur Raserei hingerissen hatte, von Menschen statt von Pferden in tollem Triumph davongefahren wird, wenigstens in anderem Sinne, setzte sich jetzt die Mietskutsche unter der Kraft von Hunderten von Armen in Bewegung, und keine Macht der Welt mehr schien die Meisterin Romigny vor dem Ersäuftwerden erretten zu können. Dennoch erreichte die Kutsche den Fluß nicht; denn während noch die gestaute Menge die Bewegung verlangsamte, hatte an der Straßenecke der Meister Grobschmied ein weißglühendes Eisen von hinten her durch das Guckfensterchen gestoßen, mit einer wütenden Verwünschung, und als der Wagen dann die Straße des heiligen Dionysius gewonnen hatte und in der Richtung nach der Seine sich in hellen Galopp setzte, da stand er auch schon lichterloh in Flammen, daß die kleinen Leute vor ihren Buden sich entsetzt bekreuzten und dachten, ob Seine Majestät der König Satan in höchst eigener Person seinen feurigen Triumphzug halte in seiner guten Stadt Paris. Doch lange dauerte die Eliasfahrt der Dame nicht, schon vor dem gotti– schen Portal der Kirche Saint Leu brachen die halbverbrannten Räder in sich zusammen, und in wenigen Augenblicken war auch das Volk in alle Winkel zerstoben, und was zurückblieb war nichts als ein Haufen glimmen– der Holz- und Ledertrümmer und eine arme, schwarzverkohlte Menschen– leiche. 46

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