Oberösterreichischer Volkskalender 1928

1. zuletzt die Achsel zuckte und damit der braunen Witwe sein Bedauern zu erkennen gab. Da hatte diese einen neuen Gedanken. „Daß mir das nicht früher eingefallen ist," sagte sie; ,,der tückische Bursche hat natürlich die Brosche schon weggegeben. Ihr müßt nämlich \Vissen, Meister Longbras, daß der Mensch drüben in der Hechtgasse ein Schätzchen hat, an das er schon längst alles hängt, was er verdient. Es ist das die hinkende Annette Brillon, die ja hier im ganzen Viertel von Sankt Eustach bei vielen für eine Art Heilige gilt, es aber nach andern dick hin– ter den Ohren haben soll, denn sie ist - trotz ihrem kurzen Fuß - ein appetitliches Stückchen Menschenfleisch, und der blonde Paul soll nicht der erste sein, dem sie den Kopf verdreht hat. Und wenn es Eurem Patron, dem Herrn Richter Robinet, um das Wohl der ehrlichen 1Leute zu tun ist, wofür ihn ja der König bezahlt, so wird er gut daran tun, 1 bei dem genann– ten Mädchen eine Hausdurchsuchung anzuordnen, und da würde sich .bald zeigen, wie Menschen und Dinge heimlich zusammenhängen." Der Richter Robinet wußte, wofür ihn der König bezahlte; er befahl alsbald die Haussuchung bei der Annette Brillon, wo dann der Kommissär und sein Schreiber nicht allzulange zu suchen brauchten, um die Vergiß– meinnichtbrosche da zu finden, wo die Romigny sie versteckt hatte. Diese Vorstecknadel war zwar ein ziemlich wertloses Ding, aber welche Geringfügigkeit wäre nicht als Corpus delicti für einen Richter eine außerordentlich wichtige und schätzbare Sache? So schickte der Herr Robinet vom Kleinen Chatelet dem ahnungslosen Paul die Häscher auf den Leib, und wer einmal zwischen einer derart malerischen Begleitung in das gefürchtete Chatelet abgeführt wird, um dessen Sache steht es schlimm, besonders wenn ihm der Richter eine zierliche Vergißmeinnichtbrosche entgegenhalten kann, die doch ganz selbstverständlich gestohlen worden ist, und wer anders konnte sie gestohlen haben als der, den die ehrliche Eigentümerin und der hochweise Richter gleichermaßen für den Dieb er– achteten. Wurde also der unglückliche Paul, den man kaum zu, Worte kommen ließ - wozu auch noch? - zum Schandmal und öffentlicher Auspeitschung verurteilt und wurde unverweilt zur Prozedur geschritten, und zwar nach der galanten Sitte der Zeit nicht etwa in einem Hofe des Chatelet, sondern vor dem Hause und der Fuhrhalterei seiner gekränkten Meisterin und unter Zulauf vielen Volkes, wie es das Gesetz der Genugtuung zu verlan– gen schien. Jedermann weiß, daß die Könige von Frankreich in ihrem Wappenschild wie in ihrer .königlichen Krone das Zeichen der Lilie trugen, aber wenigen ist es wohl bekannt und klingt auch fast unglaublich, daß das übliche Schandmal eine ebensolche Lilienblüte darstellte, die jetzo vor den Fen– stern der Witwe Romigny dem Kutscher Paul mittels eines glühenden Eisem auf die Stirn gebrannt wurde, daß es die gaffende Menge konnte zischen hören und der Geruch von gebrannter Haut allem Volk in die Nase stieg, das übrigens an solche Schauspiele hinlänglich gewöhnt war. Die Sache hätte darum an sich weniger Aufsehen gemacht, mehr dagegen wirkte auf die Gemüter der guten Pariser eine andere Er– scheinung. Das war die tränenüberströmte jammernde Annette Brillon, die sich fast wie wahnsinnig durch die Menge drängte und es flehentlich allen Nachbarn zurief, der Paul sei unschuldig, er habe ihr die Brosche gar nicht geschenkt, die Romigny wäre bei ihr gewesen und müsse selber das Nadelding in ihre Schublade praktiziert haben; was nun wohl die meisten 45

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