Oberösterreichischer Volkskalender 1928

sie werde das nicht länger dulden und die Geschichte müsse ein Ende nehmen, oder sie wolle ihn aus dem Dienst jagen, lieber heute als morgen. Nun hörte zwar die Geschichte, um ihren Ausdruck zu gebrauchen, nicht auf, und diese Tatsache entging ihr auch keineswegs. Dennoch erfüllte sie ihre Drohung nicht, weil der deutsche Paul eben doch ihr zuverläßigster Kutscher war, und vielleicht noch aus einigen anderen Gründen. Aber wenn sie auch den Elsässer zu ihrem eigenen Vorteil behalten wollte, verzichtete sie doch nicht darauf, ihm eine derbe Lektion zu geben, die er nach ihrer Meinung zehnfach verdient hatte. Und so erschien sie nach einigen Tagen bei der Nähterin Brillon in der Hechtgasse, wo die hübsche Annette eine Dachkammer über dem fünf– ten Stock bewohnte, um sich von ihr ein Morgenjäckchen anmessen zu lassen. Sie tat sehr freundlich zu ihr, sagte, sie habe die Arbeiterin zu sich rufen lassen wollen, habe aber dann gedacht, lieber selber zu kommen, weil sie wohl wußte, wie dem Mädchen wegen des kurzen Fußes das Trep– pensteigen beschwerlich falle. Auch auf den Paul brachte sie die Rede, und die harmlose Annette gestand ihr zutraulich, daß der blonde Kutscher fortfahre, sie zu besuchen, daß er sie gern habe und mit der Zeit heiraten wolle. Wie diese Geständnisse auf sie wirkten, verbarg die Romigny sorg– fältig, obwohl es schien, daß es ihr ganz schlecht dabei wurde. Denn sie bat plötzlich die Annette, ihr aus der Küche der Nachbarin eine Tasse Milch zu besorgen. Als das Mädchen die Kammer verlassen hatte, zog die Romigny eine Schublade des Nähtisches auf urid begann da in deren Inhalt zu wühlen, der aus Fadenrollen, Stoffrestehen, Knöpfchen auf blauer Pappe aufgefädelt, und hundert anderen ähnlichen Gegenständen bestand. Bis auf den Grund durchwühlten die mageren Finger der bräunlichen Witwe das Zeug; als sie aber den hinkenden Tritt der Annette vor der Türe hörte, schob sie rasch die Lade zu und vertiefte sich in die andächtige Betrachtung eines Stickmusters auf dem Nähtisch. Dann trank sie rasch die gebrachte Milch und verabschiedete sich. Drei Tage später legte sie morgens ihren Festtagsstaat an und begab sich nach dem Kleinen Chatelet, wo die niedere Gerichtsbarkeit ihren Sitz hatte. Dort fragte sie nach dem Richter Robinet, der früher ihren Mann gekannt hatte, und dem erzählte sie in leidenschaftlicher Entrüstung, daß ihr ein teueres Andenken ihres Seligen abhanden gekommen sei, eine in Silber gefaßte Elfenbeinbrosche mit aufgemaltem Vergißmeinnichtsträuß– chen. Sie habe ihre Magd, die Babette, in Verdacht, und bitte den Richter, eine Gerichtsperson damit zu beauftragen, daß er sie begleite und bei der Durchsuchung der Magdkammer gegenwärtig sei, um der diebischen Babette alle Ausflüchte abzuschneiden. Der Richter Robinet fand das Ansuchen billig und gab den entsprechenden Befehl. Zu Hause angelangt, führte die Romigny, die über den Verlust zuvor nicht geschnauft hatte, den Clerk in die genannte Kammer, wo beide nun alle Habseligkeiten der armen Magd bis auf das Bettstroh durchstöberten, ohne aber das Gesuchte zu finden. „Ich war dumm," sagte da die Romigny, ,,es war natürlich nicht die Babette; wenn ich mir's recht überlege, war's gewiß niemand anders als der Kutscher Paul; laßt uns einmal bei ihm nachsuchen, Meister Longbras, er ist abwesend, sicher finden wir das Gewünschte." Aber auch in dem Bretterverschlag des elsässischen Kutschers fand sich die Brosche nicht, obwohl die Meisterin und der Herr Schreiber sich keine Mühe und Genauigkeit zu viel sein ließen, so daß Meister Longbras 44

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2