Oberösterreichischer Volkskalender 1928

.................................... ~ ...................................................... Der feurige Wagen / Novelle von Benno Rüttenauer In dem Paris des Königs Ludwig und des Raubmörders Cartouche war das Leben sicher um ein beträchtliches abenteuerlicher und farbiger und an tollen Zufällen reicher als in dem Paris von heute. Doch auch damals haben die Pariser nicht alle Tage ein Schauspiel erlebt wie das vom 21. März 1721, wozu die Bürgerin Marie Romigny die keineswegs unschul– dige Veranlassung gegeben hat, und wenn ihr dabei die Hauptrolle zuge– schoben wurde, so konnte sie sich zwar dagegen sträuben, aber genützt hat es ihr nichts, der Göttin Justitia zum Trotz, die ihr mit verbundenen Augen zur Seite stand. Diese noch jugendliche Witwe betrieb in der Sankt Salvatorgasse, zur Pfarrei von Sankt Eustach gehörig, eine höchst einträgliche Lohnkutsche– rei, die ihr der Meister Romigny, ihr Seliger, in gutem Zustande hinter– lassen hatte. Sie war eine etwas magere Braune, deren stark sinnlichem Temperament nicht mehr ganz vollwertige Reize entsprachen. Aber sie war die Meisterin, und so wurde der blonde Paul aus Diedenhofen, ihr jüngster Kutscher, den sie sichtlich begünstigte, von nicht wenigen benei– det. Denn das konnte zu einer Heirat führen, und daß ein armer Kutscher die Meisterin bekam und das Geschäft dazu, würde die ganze Sankt Sal– vatorgasse als kein kleines Glück betrachtet haben, das man aber dem freundlichen Elsässer weniger als einem anderen mißgönnt hätte. Wie nun das Verhältnis der beiden untereinander beschaffen war, braucht nicht näher untersucht zu werden. Die Leute mochten davon denken was sie wollten, es ging sie nichts an; wenigstens meinte es so die Frau Meisterin. Aber da hätte sie nicht eines Tages einen Lärm schlagen sollen vor all den vier Kutschern und dem übrigen Gesinde, wodurch sie die bösen Mäuler arg herausforderte. Es lag aber so in ihrem cholerischen Tem– perament, sie konnte nicht an sich halten und mußte es dem blonden Paul laut vorwerfen vor der ganzen Welt, daß er ein verdrückter deutscher Heimtücker sei, ein rechter Halunke, daß sie ihm aber auf die Schliche gekommen sei und sein schandmäßiges Betragen einmal aufdecken wolle. Kurz, sie warf dem blonden Kerl vor, ohne sich im mindesten um das Grinsen der Hausbewohner und das Aufhorchen der Nachbarn zu beküm– mern, daß er mit der hinkenden Annette Brillon, der blutjungen Nähterin in der Hechtgasse, ein heimliches Verhältnis habe, daß er sich des Nachts zu ihr schleiche, daß er den größten Teil seines Lohnes für Geschenke ausgäbe, die er ihr bringe, und so weiter. Und ob das ein Betragen sei und nicht ein schnöder Undank gegen sie, die Meisterin, die ihn auf der Gasse aufgelesen und zu etwas gemacht habe, den hergelaufenen Bettler. Aber 43

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