Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1997

Der schrecklichste Tag meines Lebens Aus Bilderbuch eines Weltreisenden Von Max Schittengruber Am 1. November 1918 erlebte ich als junger Leutnant über Asiago und Asiero an der italienischen Front den schrecklichsten Tag meines Lebens. In der Nacht vorher mußte ich nach einem schweren Trommelfeuer meine Feldwachen inspizieren. Ich traf auf dem Bauche kriechend nahe der italienischen Front meinen Freund und Kameraden, einen jungen Leutnant eines anderen Zuges, der mir mit leiser Stimme entsetzt zuflüsterte, daß die Italiener seine Feldwachen gefangen haben. Bald darauf mußte ich erfahren, daß dies auch bei meinen Feldwachen der Fall war. Es begann ein neues Trommelfeuer, und als ich erschöpft in meiner Stellung ankam, begann schon das Morgengrauen, und ich sagte zu meinem Zugsführer, daß ich mich ein wenig hinlege und er mich wecken soll, wenn er etwas Verdächtiges höre. Kaum schlief ich ein wenig, meine geladene Pistole neben mir, da weckte er mich um 6 Uhr früh von meinem Schlaf. Ich sah wie die Italiener, verstärkt von Franzosen und Engländern, zu unseren schwachbesetzten Stellungen heranrückten - und wie das Chaos begann! Ich nahm sogleich Fühlung mit meinem Kompaniekommandanten, der die Übermacht des Feindes sah und den sofortigen Rückzug befahl. Wir waren schon so geschwächt und um ein weiteres Blutvergießen zu vermeiden, war es der einzig richtige Befehl! Wie soll ich nun das Weitere beschreiben? Ich allein habe es noch vor Augen, als wäre es gestern gewesen! Wir machten Purzelbäume über die Drahtverbaue, vor uns Trommelfeuer, hinter uns Granaten- und Gewehrfeuer. Ich hatte alte Landsmänner in meinem Zug und noch jüngere Rekruten als ich ihr I9jähriger Leutnant. Manch lieber Kamerad fand den Heldentod, und ich denke heute noch gerne an das schöne Gedicht von Uhland „Der gute Kamerad". Viele meiner Soldaten fielen oder wurden gefangen, als sie die furchtbaren Strapazen nicht aushalten konnten. Wir liefen und liefen - und als ich um 10 Uhr abends meinen Bataillonskommandanten meldete, daß von meinem Zug von sechzig Mann nur noch zehn übrig waren, mußte er feststellen , daß es anderen Formationen auch nicht besser ergangen ist! Wir sammelten uns vor einer brennenden Munitionsfabrik so gut es ging, die Soldaten plünderten vor Hunger Magazine mit Proviant und wir hofften in einem alten Schuppen ein wenig schlafen zu können. Um 2 Uhr früh wurden wir schon wieder geweckt, denn der Feind war uns nachgerückt. Wer konnte, lief weiter! Ein neuer Tag begann. Es war Allerseelen! Kaum hatten wir Zeit an zuhause zu denken, wo die Leute auf den Friedhof gingen, um für ihre Verstorbenen zu beten. Ich dachte an meine Mutter, die gewiß für ihren gefallenen Sohn betete. Wir waren sechs Brüder, ihr Lieblingssohn ist mit 19 Jahren gefallen, ein Bruder war der erste Verwundete in Garsten, mein ältester Bruder Militärrichter, noch ein Bruder wie ich als Leutnant an der Front! Ich war der jüngste - und hatte gewiß einen guten Schutzengel und eine fromme Mutter, um diesem Inferno zu entgehen! Glauben Sie es mir, wenn ich Ihnen sage, daß wir am Allerseelentag noch bis 10 Uhr abends gelaufen sind? Was kann doch der Mensch aushalten, wenn ihm Gefahr droht! Manche meiner Leser glauben, ich hätte nur Schönes in meinem Leben erlebt. Trösten Sie sich, kein Mensch der Welt bleibt verschont von Schmerz und Leid! Doch wie ging's damals weiter? Am 3. November um 3 Uhr nachmit45

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