Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1997

im Hals stecken, als er in dem Düster sah, daß die kahlen Mauerwände um ihn unersteigbar waren. „Ich muß mir einen anderen Ausgang suchen!" nahm er sich vor. Er fing an, die Wände ringsum abzuklopfen. Als er eine Stelle hohl klingen hörte, nalun er einen schweren Stein und schlug an die Mauer, bis sie nachgab und eine schmale Wölbung dahinter sichtbar wurde. Der Bursch tastete sich mit den Händen hinein - und siehe da, er stand in einem niedrigen Gang! Der Gang muß mich ins Freie hinausführen!" tröstete sich der Bursche, und seine Hoffnung und sein Mut stiegen wieder an. Nach hundert Schritten wurde es heller vor ihm. Er schob dichte Spinnweben zur Seite, die ihm noch die Sicht nahmen - und dann stand er in einem schmalen Zimmer, das wie die Kammer eines Schloßherrn aussah. Vielleicht hatte hier der Graf einst seine wichtigsten Dinge vor den andern verborgen gehalten. Denn in den Wänden entdeckte der Bursch jetzt Nischen, in denen vielleicht einmal eine Statue gestanden war. Er fand kleine Wandschränke; etwa hatten sie einst geheime Schriften enthalten. Jetzt lagen sie alle ausgeräumt und verstaubt. Der Bursch trat unter einen Mauerbogen und konnte von hier aus wieder in die Tiefe hinabschauen. Dort unten war er auf der Straße mit seinem Mädchen gestanden. Im Westen stand die Sonne, die jetzt hinabgesunken war. Er erschrak, als er erkannte, daß von keiner anderen Stelle als von diesem Mauerrand das gelbe Leuchten in die Tiefe geblitzt hatte. Er fing an, die Nischen, die dem Mauerbogen zugewandt lagen, von neuem zu untersuchen. Er bog sich über dem Rand der Mauerwölbung hinaus - und da entdeckte er unter dieser eine neue Nische! Zitternd griff er hinab - tiefer, tiefer - da ertasteten seine Finger einen runden , glatten Gegenstand. Er hob die Hand - ein kleines Fläschchen hielt er auf einmal vor sich! Der Bursch besah es von allen Seiten. Es schien ihm jetzt, als regte sich 's drinnen. Ja, wahrhaftig - ein Geistlein sprang in der Flasche auf und ab! „Wie bist du da hineingeraten?" fragte der Bursch laut. Schon wollte er das Fläschchen öffnen - da entsann er sich im letzten Augenblick einer alten, alten Geschichte, nach der ein eingeschlossener Geist ungeheure Kräfte besaß und sie dem schenken konnte, der Gewalt über ihn hatte. „Jetzt bist du da drinnen mein! " lachte der Bursche laut. In diesem Augenblick schien es ihm, als hörte er ein feines Stimmchen. Er drückte das Fläschchen ans Ohr - und jetzt vernahm er, wie der Flaschengeist rief: ,,Laß mich aus, laß mich aus! Ich sitze schon vierhundert Jahre gefangen!" „Wer hat dich eingefangen, du kleiner Riese?" fragte der Bursch. Er vergaß auf einmal, daß er noch gar keinen Ausgang aus den unterirdischen Gemächern gefunden hatte und vor der Mauer draußen der Fels wohl hundert Meter senkrecht abbrach. ,,Ein Stärkerer als du hat mich gefangen!" schrie der kleine Geist mit schrillem Stimmchen. ,,Laß mich aus; ich will dir 's lohnen!" „Das hört sich schon besser an!" freute sich der Bursch. ,,Führe mich zuerst einmal aus dem Gefängnis dieser Ruine hinaus!" Da fing das Geistlein hell und heller zu leuchten an, denn die Nacht stand schon nahe. Der Bursch sah einen Spalt in der Mauer, der sich leicht erweitern ließ. Drüben fand er eine neue Kluft, in die der Flaschengeist hineinleuchtete. Stufen tauchten aus der Finsternis; tastend stieg der Bursch hinab. Und jedesmal, wenn die Mauer sich ganz zu schließen schien, fand er mit dem Licht des Geistleins um eine Mauerkrümmung herum wieder einen Ausweg. Der Bursch wußte nicht mehr, wie lange er gegangen war, als die kalte Luft wärmer wurde. Auf einmal streiften Büsche um sein Gesicht, und er stand in der Nacht draußen . Er sah ein verfallenes Steiglein unter seinen Füßen. An unheimlichen Abstürzen wand 43

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