Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1992

wand. Mein Freund sichert uns. Er steht zwanzig Meter höher auf dem Schuttband und zieht die beiden Seile ein, geht in die Knie, stemmt sich mit den Beinen gegen den Fels, zieht die Seileüberdie Schulter, richtet sichwieder auf .Der Italiener packt mich unter den Armen und zieht mich Stück für Stück höher. Ich höre den schweren Atem, dann höre ich nichts mehr. Die Schmerzen sind keine Schmerzen mehr. Als ich die Augen aufschlage, liege ich auf dem Schuttband. Mein Freund sitzt neben mir, schiebt den Biwaksack unter meinen Rücken, zieht seine Windjacke und den Pullover aus und deckt mich damit zu. Ich friere trotzdem. Der Italiener schient meinen linken Fuß mit einem Kletterhammer. Schmerzen. Ichwill lächeln, aber ichbin zu müde. Stunden vergehen. Ich trinke Tee in kleinen Schlucken. Wir schweigen, starren lange hinunter, warten auf Hilfe. Den Sturz haben Touristen beobachtet, seither sind schon fünf Stunden vergangen. Niemand kommt. Es ist sehr still jetzt und es wird kühler. Wir warten. Bald sind es acht Stunden. Mein Freund wird unruhig. Ich werde immer ruhiger, mir ist alles gleichgültig. Ich will nur schlafen und ver- . gessen. Und dann sind sie plötzlich da, die Scoiattoli. Sie klettern wirklich wie Eichhörnchen, diese Männer. Ich schaue auf, mein Freund steht einige Meter rechts von mir. Ein Mann nach dem anderen taucht auf. Sie bewegen sich alle sehr rasch und sicher. Ich bin froh, erleichtert. Danke, ein kurzes Stoßgebet. Jetzt erst sehe ich wieder den Himmel, es ist dunkler geworden. Das Wetter hat gehalten. Mein Freund redet mit dem Führer derMannschaft. Die Italiener sind sehr freundlich. Ein Mann mit einem Sprechfunkgerät kommtaufmichzu. ,,Wiegeht's?" fragt er und klopft mir auf die Schulter. Ich nicke stumm. Mein Freund hilft bei den Vorbereitungen für die Bergung. Manchmal wende ich den Kopf und sehe, wie sie Haken schlagen und Seile aneinanderknüpfen. ,,Wie komme ich runter?" frage ich. „Abseilen", sagte einer, ,,über die Nordwand ." Jetzt ist es soweit. Zwei Männer kommen auf mich zu und rollen eine Tragbahre auseinander. Vier Männer stehen auf engstem Raum an die Wand gepreßtundhebenmichhoch. Schmerzen, ichwill aufschreien. Schweiß rinnt über meinen Körper. Es ist ein Gefühl, als würden sie mir die Beine ausreißen. Vor meinen Augen wird es schwarz. Ich liege wie in einem Schlafsack, der Kopf steckt in einer warmen Kapuze. Nur meine obere Gesichtshälfte, von den Augen bis zu den Nasenlöchern, liegt frei. Ein kleines Stück noch bis zur Kante, wo die Nordwand abbricht. Dann hänge ich über dem Abgrund. Der Leiter der Rettungsmannschaft seilt sich einige Meter in die Nordwand, bis er unter mir hängt . Er faßt mit den Händen unter die Tragbahre, so gleiten wir Meter um Meter die Wand hinunter. Nach vierzig Metern hänge ich in der Leere. „Jetzt mußt du allein weiter", sagt der Italiener. Ein kleiner Ruck, und ich schwebe unter den Überhängen . Der Tanz unter den gelben Dächern beginnt . Langsam gleite ich tiefer. Das Seil beginnt sich zu drehen, ichbeginne mich zu drehen, alles um mich dreht sich. Wie ein Kreisel nähere ich mich dem Abgrund, der Abstand zur ausladenden Wand wird immer größer. Mir ist, als würde ich direkt vom Himmel fallen. Ein Ruck . Das Seil schwingt auf und ab. Mir wird übel. Ein fortwährendes Drehen. Ich hänge inmitten der Nordwand. Allmählich kommt die Angst. Noch immer häng ich an derselben Stelle, nichts rührt sich. Ich sehe ein paar Seilschaften, die sich unter den Felswülsten abmühen. Seile, Trittschlingen, rot, blau, gelb, Haken und Karabiner blinken im Licht der sinkenden Sonne. Die Seile schlagen imWind. Wieder spüre ich einen Ruck. Die Fahrt geht weiter, die Kreise werden immer größer. Kreisen, Warten, Schaukeln. Ein endloses Schweben, immer tiefer. Leuchtende Farben, Fels, Seilkommandos, Karabinergeklirr, das Singen der eingetriebenen Felshaken. Ich sehe nichts mehr. Das Drehen wird schneller und schneller, ich sinke tiefer. Und plötzlich höre ich Stimmen unter mir, italienisches Stimmengewirr. Lange, sehr lange hat es gedau4 1

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