mehr belastet, die linke Hand streckt sich, um den Karabiner in die Hakenöse einzuklinken. Die rechte Hand hält noch eisern, doch plötzlich löst auch sie sich vom Fels. Die Linke will noch zitternd den Karabiner einhängen. Zu spät. Langsam löst sich die Hand, löst sich der Körper von der Wand. Alles geht jetzt rasend schnell und zugleich endlos langsam. Die Zeit ist aufgehoben, eine Sekunde ist jetzt Ewigkeit, in der mein Geist in tiefe Klarheit taucht. Ich spüre mich zerfließen, spüre, wie sich mein Körper von mir entfernt. Ich ahne, daß Körper, Berg, Abgrund, Geröll, Himmel und Wolken bedeutungslos sind, gefangene Materie, an sich selbst gekettet. Ich stürze in eine Woge heller Klarheit . Ich falle noch immer, spüre, wie sich der Körper nach hinten dreht. Ein Felsvorsprung. Dumpfe Erschütterung im Gehirn. Ein harter Schlag gegen den Kopf. Noch ein Salto, wieder ein Schlag, ein hartes Aufprallen. Ein scharfer Druck in der rechten Hüfte. Das klare Licht versinkt in tiefer Dunkelheit. Und es ist nichts mehr ummich und nichts mehr in mir - keine Gedanken, kein Fühlen. DannschlageichdieAugenauf,langsam und müde, als hätte ich geschlafen . Ich hänge an einem Seil und baumle über einem Abgrund und versuche mich zu erinnern. Dann starre ich gegen eine Felswand, dann gegen den Himmel und spüre eine erschreckende Leere in meinem Gehirn, die durch den Schmerz noch deutlicher wird. Dann beginnt es im Kopf zu toben, ich lasse ihn sinken . Langsam beginne ich zu begreifen. Gedanken kehren zurück, Erinnerungen. Ich weiß nicht, wieviel Zeit inzwischen vergangen ist. Sekunden, Stunden, Tage? Schreie ... Ich höre ihn rufen, den Freund. Ich höre das Zittern in seiner Stimme, zuerst nur schwach und sehr weit weg, dannstärkerundstärker, bis es zu einem Brüllen wird. Ich will ihm antworten, ihm zurufen, daß alles in Ordnung sei, daß ich jetzt, jetzt und jetzt hinaufkommen werde, aus eigener Kraft. Meine Beine sind tot, lahm hängen sie vom Körper. Die Beine spüre ich nicht mehr, nur den Schmerz. Es sind fremde Beine, aber es ist mein Schmerz . 40 Wieder die Schreie von oben. Jetzt, ja, jetzt und jetzt muß ich hinauf . Ich muß hinauf, schießt es immer wieder durch meinen Kopf, ich muß, ich muß . Und jetzt versuche ich es wirklich, versuche es wieder und wieder, will mich mit den Händen hochziehen . Auch die Hände versagen, der Wille ist vergeblich. Die Linke klammert sich an ein Stück Fels, sinkt zurück, alles, der ganze Körper sinkt zurück . Die Muskeln sind schlaff, in den Händen ist nichts mehr, sie sind leblos . Ich will den Kopf aufrecht halten, auch er sinkt, das Kinn fällt auf die schwer atmende Brust. Ich bin müde, unendlich müde. schlafen, denke ich, nur ein bißchen schlafen. Das Herz hämmert, das Atmen wird immer schwerer. Jetzt spüre ich keine Schmerzen mehr. Die Augenlider sind schwer, ich will schlafen. Schlafen, nichts weiter. Schlafen, vergessen - nein, du mußt hinauf, du mußtleben, hämmert es durchmeinen Kopf. Der Wille siegt. Ich reiße die Augen auf, starre in die Tiefe. Durch die Beine sehe ich den Abgrund. Wie ein Karussell beginnt alles zu kreisen, das Geröll, das Schneefeld, die Nordwand der Großen Zinne, Kletterer, ein paar Leute unten beim Einstieg, alles dreht sich, zuerst langsam und dann immer schneller. Du mußt weiter. ,,Mit den Händen!" höre ich die Stimme weit über mir. ,,Versuch's mit den Händen! Du mußt es versuchen!" Ja, mit den Händen, den Händen ... ich muß es versuchen, immer wieder versuchen. Ich kralle mich in den Fels. Es ist unmöglich, mich nur ein Stück hochzuziehen. Ich spüre den Seilzug, einen Ruck und - Schmerzen, nur Schmerzen. Brennende Krallen klammern sich ummeineHüften, der Druck wird stärker, die Gedankenschwinden. Wieder kommt das große schwarze Nichts auf mich zu . Und dann ist alles wieder da, die Umgebung wird klarer. Ich hänge im Seil, ein paar Meter höher. „Kann ich helfen?" Eine Stimme, ich höre eine fremde Stimme, jetzt ganz deutlich. Hilfe, endlich Hilfe. Meine Gedanken werden klarer. Ich höre sie miteinander sprechen. Der Fremde ist Italiener, er spricht Deutsch. Der Italiener klettert weiter, quert nach links. Dann steht er neben mir. Ruckweise schleppt er michüber die gestufte Fels-
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