Es war Andreas, der den Vorschlag machte, noch einmal in den Domzuge– hen. Dunkelheitwar über der Stadt, die breit an den beiden Ufern des Stromes lag, hler flach, drüben hineinge– schmiegt in die Hänge und Mulden des Hradschinhügels - eine Welt im Ein– klang mit ihrem Atem. Die Plätze ga– ben sich sanft dem Dämmerlicht der , Laternen preis, dem Spiel der Formen und Fassaden. Die Gassen eng, aber zielgerichtet hinauf zum König, zum Gott. Und wiederum war es Andreas, der den Zettel sah. Er steckte imKom– muniongitter des linken Seitenaltares, zusammengerollt in einer Spirale des Schmiedeeisens, kaum sichtbar. Es war Inges Schrift: Mittwoch 764, Kar– lowa 302. Dechiffriert hieß dies: Sonn– tag, 14 Uhr, Karlowa 3. Es war nicht schwer, das kleine, ter– racottafarbene Hausmit demebenmä– ßigen Giebel zu finden, Michael hatte einen Stadtplan. Die Karlowa war der Verbindungsweg vom Kleinseitner– Rj,ng hinauf zu den Vorplätzen der Pra– ger Burg. Links ein paar schmale Häu– ser, drei, vierstöckig von der unteren Gasse, ebenerdigvon der ansteigenden Karlowa her. Rechts hohe Steinmau– ern, die die verwunschene Intimität der Königsgärten vor den Blicken des Volkes verschlossen hatten. Immer– grüne Schlingpflanzen wucherten von innen nach außen. Uraltes Pflasterge– stein, eine Regenrinne, in regelmäßi– gen Abständen sanfte Stufen, die den Stolz brachen und die Demut förder– ten. In das blankgeputzte Messing– schild des Hauses Karlowa 3 war ein Name eingraviert, der ihnen fremd war. Die beiden jungen Männer standen auf der Aussichtsterrasse am oberen Ende der Karlowa und taten touri– stisch. Dritter Adventsonntag. Es wa– ren kaum Menschen unterwegs, die Frauen vielleicht zu Hause, um Weih– nachtsstollen zu backen, die Kinder beim Basteln, die Männer beim Zei– tunglesen hinter den Fenstern, die von der feuchten Kälte beschlagen waren. 13Uhr55, Karlowa 3: vonweitem schon sahen sie Inge die Gasse heraufkom– men. Sie lief in der Regenrinne nahe den Hauswänden, ihr dunkler Mantel schloß undöffnete sichüber denKnien. Andreas knipste. Die Freunde kehrten um, gingen langsamwieder Richtung 42 Hradschin, ließen Inge auf dieselbe Höhe kommen, blätterten interessiert im Stadtplan von Prag, keiner sagte einWort, sie stiegen ins Auto, das stadt– auswärts unter den kahlen Akazien des schönen, leicht abschüssigen Platzes der großen böhmischen Adelsge– schlechter geparkt war. Wenn es nicht die Geschichte von Inge und Michael wäre, den Stillen, die jeden Tag leben wie das Streifen der Hand über dunkelgrünen Samt inRich– tung des Glanzes; wenn ich nicht die Photographie kennte, die ich einmal in Michaels Wohnzimmer liegen sah, dieses Bild eines schmalen, dunkelge– kleideten Mädchens, das mit offenem Mund eine ansteigende Gasse hinauf– läuft - ich mußte an Eduard Munchs .,Der Schrei" denken - ich würde vie– les für erfundenhalten. FürPhantasie– geschichten, die sich in der Erinne– rung stetig ausbreitenwie Jahresringe in guten Sommern. Diese Story mit demHohlraum im Auto und dann Prag und dann diese Nachricht imGitter des Domes und die Karlowa Nummer drei. Zu unglaublich, umwahr zu sein. Aber die Wirklichkeit treibt mit ihren Mög– lichkeiten ein unendliches Spiel, ohne uns zu fragen. Es ist 18 Jahre her, seit Michael in Prag war. Seit sieben Jahren kenne.ich ihnund ein wenig auch Inge. Ob ihr Le– ben das wurde, was sie sich von ihm er– warteten, will ich nicht beurteilen. Ich glaube sie lieben sich. Aber es ist etwas um sie, was sich schwer beschreiben läßt - etwas wunderbares und beäng– stigendes zugleich. Eine Art Leblosig– keit, als ob die Kraft, die sie gehabt ha– ben müssen und die sie so kühn gemacht hatte, irgendwo verloren ge– gangenwäre, verbraucht von einer ein– zigen Stunde ihres Lebens. Als die Drei in die Nähe der Grenze kamen, war es längst dunkel. Da sie un– unterbrochen an das dachten, was ih– nen bevorstand, redeten sie von ge– stern. Es war ganz einfach gewesen, keine Tragik, kein neuerlicher Verrat, kein Selbstmordversuch. Als Onkel und Tante von Inges Wunsch gehört hatten, den Veitsdom zu besichtigen, bestanden sie darauf, ihn ihr selbst zu zeigen. Aber der Onkel mußte vorher noch ruhen, da er leicht herzkrankwar, Inge mußte beim Geschirrspülen hel– fen, konnte nichtweg, ohne Argwohn zu
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