Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1991

Ende des länglichen Platzes eine Men– schenschlange vor einemHandwagen, auf dem Bananen lagen. Der Wind strich die abbröckelnden Fassaden entlang, setzte sich in den Pelzkrägen der Mäntel fest, tat seinen Dezember– dienst. Michael konnte das Rascheln des groben Packpapiers, in das die ge– kauften Dinge eingeschlagen wurden, nichtmehrhören.DasPlanenfüreinen Tag, der ihm unendlich weit entfernt erschien, schmerzte ihnwie der dump– fe Druck eines Magengeschwürs. An– dreas hatte einen Studienkollegen ge– troffen, Michael war allein. Er kaufte sich ein Säckchen Maroni, wärmte seine Hände an den weichen Konturen der Früchte, verließ denMarkt, verirr– te sich, kam schließlich doch an die Moldau. · Nächtelang hatte er zu Hause den Stadtplan studiert: die Teynkirche, den Goldenen Weg, den Kreuzherren– platz, die Karlsbrücke, die Kleinseit– ner Brückentürme, die Niklaskirche, die Karlowa, der Hradschin, inmitten der Burghöfe der Platz des Domes, der dem Heiligen Veit gewidmet war. Mi– chael wollte ihn noch einmal gehen, diesen Weg, damit er ihnmorgen auch finde, sichnichtverspäte. Und dastand er nun auf der leicht gewölbten Stein– brücke des großen Böhmenkönigs Karl, hörte das Getrappel der schwe– ren Pferde aus Jahrhunderten in den Wölbungen des Pflasters, hörte die Schritte von Generationen von Solda– ten, das Gerassel der Schwerter und das Schlagen der Fahnen im Wind. Er standdain derDüsternis, nur jede vier– te Laterne schwach gelblich erleuch– tet, sah Hunderte weiß schimmernde Möwen an den Wellenbrechern der Brückenpfeiler über dem leise rau– schenden, dunklen Wasser, sah den Steinfiguren der Könige und Heiligen schwarz über ihm in der Feuchte des Nebels, drohend die Gebärden, zu– rechtweisend, flehend, sinnlos. Da und dort leuchtete ein Gold aus der schwar– zen Feuchtigkeit, Gold eines Knaufes, einer Krone, eines Kreuzes. Er stand da und alles war nichts und das Nichts noch zu viel, als daß er es hätte ertra– gen können und er sank nieder zu Fü– ßen einer gegürteten Figur und seine Hoffnung stieß sich an den Schreien der Möwen wund, die ihm klangen wie die Todesschreie eines nächtlichen Kauzes. 12. Dezember, 11Uhr 30. Michael war eine halbe Stunde zu früh gekommen. Er warf drei Kronen in den Sprechap– parat, setzte die Kopfhörer aufund ließ die Informationen über die Bauge– schichte des Veitsdomes an seinen Oh– ren vorüberziehen. Sein Körper war Auge: Gruppen von Besuchern unter dem hohen Kreuzrippengewölbe, Fremdenführer mit weisenden Fin– gern, ein junges Paar Hand in Hand, eine ältere Frau kniend vor dem linken Seitenaltar, der schon mit Tannenrei– siggeschmücktwar. Komm, bitte, bitte komm, sagte er immer vor sichhin, es fiel ihm nichts anderes ein, und er sah sich mit den Augen Marias, die über ihm die Hände ausbreitete und seine Worte aufnahm wie Gemurmel eines Rosenkranzes. Und die Schritte der Menschen hallten näher und entfern– ten sichwieder und die Fremdenführer wiesen nach oben und nach vorne und wieder nach oben und nach vorne und das Indigoblau der Fenster wurde langsam matter, der Orgelspieler hatte seine Probe beendet, die Töne wa– ren längst schon niedergesunken an denKannelierungen der Säulen auf das Mosaik des marmornen Bodens. Um drei verließ er den Dom. Andreas wußte nicht, wie er den Freund beruhigen sollte. Sie gingen alle Möglichkeiten durch, sieben, acht, neun Mal. Sie fanden keine Erklärung für Inges Ausbleiben. Eigentlich fan– den sie zu viele, aber keine, der sie glau– ben wollten: ein anderer Tag, eine an– dere Stunde, eine andere Kirche, ein anderer Altar, der Vater hätte sie nicht fahren lassen, der Vater wäre gestor– ben, die Verwandten hätten Wind be– kommen, sie hätten sie eingesperrt, sie wäre krank geworden, sie hätte sich vorAngst vor dem, was ihr bevorstand, von der Karlsbrücke aus in die Moldau gestürzt ... Ooh, Maarllaahilf- dieser Refrain eines Liedes aus seinen Kin– dertagen, als er noch mit der Mutter in die Kirche gegangen war, sei ihm an diesem Nachmittag immer wieder durch den Kopf gefahren, von einer Schläfezuranderen, sagteMichael, als wir einmal gemeinsam am Ufer des Stausees in einem Mostbirnenbaum– Gastgarten ein Bier tranken, und er blickte in den Schaum seines Glases und beobachtete, wie sich die Blasen ausLuft in Luft auflösten. 41

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