Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1991

lieh nachgegeben hatte. .,Weißt du auch, was du da tust", hatte er Michael wiederholt gefragt, ,,weißt du, daß das euer Tod sein kann, die haben keine Skrupel, die erschießen euch auf der Stelle, wenn sie das Mädchen finden." Gut, wie all die Monate zuvor, tat Mi– chael seine Arbeit als Schlosser in der Fabrik. Er ging Samstag schon längst nicht mehr aus, hatte abends oft bis tief in die Nacht hinein Licht in seinerMan– sarde. Er streüte nirgends an, berech– nete die Abstände zwischen ihm und den Dingen mit neuem Maß, legte die Stunden wie unter einen Kolben: zer– stampft, vorbei. Und obwohl ermanch– mal eine übersah auf der Straße, sag– ten die FreundinnenderMutter, die von nichts wußten: ,,der Burschentwickelt sich gut." Nachts wälzte Michael immer die gleichen Fragen : was sagen, wie wir– ken, wohin schauen, was in den Koffer– raum legen, welche Uhrzeit wählen, dem Zöliner ein Päckchen Zigaretten schenken und vielleicht auch dem be– waffneten Grenzpolizisten ... Wird Inge genugLuft bekommen, wird sie zu schreien beginnen, aus Angst, aus Angst .. . Sollte er alleine fahren oder mit Karl, der alles wußte, oder mit Andreas, dem ervielleichttrauen durf– te ... Karls Vater verbot dem Sohn die Reise. Also Andreas. Michael zögerte lange. Durfte er einen Unbeteiligten in Gefahrbringen? InLebens-Gefahr, wie sollte man das eigentlich nennen? Und das nur, weil er selbst von quälender Sehnsucht besetzt und wie leer für das Leben war, weil, es tief innen heiß wur– de, wenn er nur an Inge dachte und sich alles ausdehnte vom Herzen her bis an die Peripherie seines Körpers und sei– ner Gedanken? Andreas war mit Michael zur Schule gegangen. Jetzt studierte er Philoso– phie und Geschichte und schrieb eine Arbeit über die Grausamkeiten des Böhmenkönigs Wenzel IV., der alle Ratsherren, die sich gegen seine Will– kürherrschaft erhoben hatten, blutig hinrichten ließ. Michael wußte, daß der Freund für Studienzwecke schon mehrmals inPraggewesenwar.Dieser Umstand kam ihm gelegen, da Inge und er die böhmische Hauptstadt als Treffpunkt vereinbart hatten. In der CSSR, als einem Land des Ostblocks, 40 durfte Inge ohne Schwierigkeiten rei– sen. Außerdem hatten die Eltern Ver– wandte dort - ein unverdächtiger Grund für einen Besuch. Samstag, 12. Dezember, 12 Uhr, vor dem linken Seitenaltar des Veitsdomes, hatten sie festgesetzt. Es war schwierig genug gewesen, da sie aus Furcht vor einem Abhören der Telefonate Chiffren für ihr Vorhaben finden mußten und Inges Vater zusätzlich moralischen Druck ausgeübt hatte, indem er drohte, sich umzubringen, wenn die Tochter an ihrem Fluchtgedanken festhielte. Es war 1970, als dies alles geschah. Als an den Grenzen noch keine Gitter– roste gebaut waren, um die Unterseite der Autos taghell ableuchten zu kön– nen, als man noch keine Laserstrahlen hatte, um die Karosserien abzutasten, als die Phantasie unzähliger Men– schen, die auf unterschiedlichste Wei– se ein neues Leben suchten und meist den Tod fanden, nochnichtineinkodifi– ziertes Schulungssystem für Grenzwa– chebeamte gebracht war. Es war 1970, zwei Jahre nach den Straßenschlach– ten von Paris, den rhetorischen De– monstrationen an den deutschen Uni– versitäten, den Blumen in den Rohren der russischen Panzer, die Prags Wi– derstand überrollt hatten. Aber wahr– scheinlich nicht deshalb fuhr Andreas mit, sondern weil er Michael verstand. Auch er hatte ein Mädchen geliebt, aber sie hatte ihn verlassen. Er wollte gerne mithelfen, einenKuß zu ermögli– chen. Mit 22 ist eine verlorene Zukunft nichts gegen eine gewonnene Liebe, eine Ewigkeit nichts gegen einen Handstreich. Die Menschen in der PragerAltstadt schienen Michael nicht fröhlich genug auf dem abendlichen Weihnachts– markt vor dem Palais Czermak. Frei– tag, 11. Dezember. Zwei Tage vor dem dritten Adventsonntag. Advent, Zeit derHoffnung, heißt es, fiel ihmein.Der Geruch von Zimt und Gewürznelken machte ihnweich. Er gingdurch die su– chenden Menschen. Ein Paar Buden, sonst nur einfache Tische. Bündel mit Tannen- und Fichtenzweigen, Steigen mit roten, schon etwas verschrumpel– ten Äpfein, Silberkugeln, Maispüpp– chen, die zu einemhimmlischenOrche– ster gebunden waren. Körbe mit feuchtem Moos, Misteläste, ein Stand mit Honig, ein Maronibrater. Ganz am

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