Flucht Von Brita Steinwendtner Das abendliche Arbeiten in der Werkstatt, wenn alle anderen nach Hause gegangen waren. „Wie lang, hast du gesagt, sind Inges Beine,'' fragte Karl. ,,83 Zentimeter." ,,Das geht nicht." Michael kam vom Motor zum Heck des kleinen Fiat: ,,Es muß gehen, Karl", sagte er, und noch einmal: ,,es muß. 43 hinauf und 40 quer." ,,79,6 ist das Maximum." „Dann müssen wir den Rücken tiefer legen." ,,Unmöglich." ,,Wir könnten eine Schräge ein– bauen". ,,Wie stellst du dir das vor?" ,,Bitte, Karl!" Undnach einer Pause: ,,Was sollen wir tun?" ,,Aufgeben ..." Inges Brief. Michael hatte ihn gleich gesehen, als er von der Fabrik nach Hause gekommen war. Er ließ das noch geschlossene Couvert durch seine Finger gleiten und die Erregung schaffte sich Raum in ihm. Er zählte die Tage: sieben. Die Mutter war ein– verstanden, er hatte ihr Inge schonvor– gestellt, sie mochten sich ohne Vorbe– halte. Michael war ihr einziges Kind, sie war froh, wenn sie ihn glücklich wußte. ,,Er hat sich ja so verändert, seit da– mals", sagte Michaels Mutter Jahre später, ,,wie ausgelöscht war seine Fröhlichkeit. Sie können sichnicht vor– stellen, Herr T., wie verzweifelt er war an diesem Tag, als Inges Brief kam." Und daß sie sofort gewußt hätte, daß Michael alles tun würde, um Inge her– auszuholen. ,,Er ist so sanft", meinte sie, ,,gerade deshalb. Inge hat in seiner Seele eine Spur hinterlassen, wie ein Fluß in weichem Sand. Sie waren fast noch Kinder, aber wenn sie sich an– schauten, ging ihnen die Welt auf." Wie soll ich nun diese wahnwitzige Geschichte, die nicht erfunden ist, son– dernTeilderBiographie einesMannes, der später mein Freund wurde, erzählen? Ich kenne das Geschehen nur in Bruchstücken, aus den spärlichen, wi– derwilligen Berichten der Betroffe– nen, undmeine Phantasie spielt sie im– merwieder vonneuemdurch. Es ist die Geschichte einer Liebe, der eine Gren– ze die Hoffnung nahm. Inge war 18 damals, in derDeutschen Demokratischen Republik zu Hause, blond, sehr zierlich, aber eine gute Paddlerin. Darum durfte sie zu den Rennen ins Ausland fahren, nach Me– ran, Augsburg, Bourg-Saint-Maurice, an die Lieser, die Enns, die Ardeche. Bei einem dieser Rennen war sie Mi– chael aus einer oberösterreichischen Kleinstadt begegnet. Sie verliebten sich, trafen sich ein Jahr später bei den Sommerrennen wieder und wußten, daß sie beisammenbleibenwollten. Es war ausgemacht, daß sie beim näch– sten Aufenthalt im Westen abspringen würde. Dann kam der Brief: verwor– ren, verschlüsselt, dennoch klar zu er– kennen: durchgesickert, Parteizen– trale - Ausreiseverbot. ,,... aufgeben", hatte Karl gesagt. Sie gaben nicht auf. Wochenlang ging Michael jeden Abend nach der Fabrik und jedes Wo– chenende zu Karl, dem Sohn eines Kraftfahrzeugmechanikers. In der Werkstätte des Vaters versuchten sie, einen altenFiat umzubauen, daß unter dem Kofferraum ein Zwischenboden entstand, in dem ein Mensch liegen konnte. Den Körper flach hineinge– preßt, die Beine quer über einem der Hinterräder, in der Nähe des Kopfes eine schmale Zufuhr für Luft. Es war kalt geworden. Es regnete tagelang, oft waren schon Schneeflocken zwi– schen den Tropfen. In der Innenstadt, die Michael auf dem Weg zu Karl kreu– zen mußte, war die Enge Gasse zwi– schen der Brücke und demmittelalter– lichen Stadtplatz schon mit Tannengirlanden geschmückt. Von den Plastik-Glocken und -Sternen tropfte der Schneeregen in die verfrüh– ten Adventmelodien vor dem Mode– kaufhaus. Die Werkstatt war nicht mehr ge– heizt. Karls Vater förderte die Sache keineswegs. Am liebsten hätte er sie verboten, aber Michael war so beharr– lich und eigentümlich überzeugend in seinen Bitten gewesen, daß er schließ39
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