UNTERHALTUNG Blitm über den Zinnen Erzählung von Georg Schipek „Laß das", sagte Paolo, ,,ich mach das schon." Cesare gab ihm das Seil, dann nahm er denHelm vomKopf undwischte sich mit dem Handrücken, der vom schar– fen Fels zerschunden war, über die schweißnasse Stirn. ,,Du siehst müde aus", sagte Paolo, während er das rote Kletterseil zusam– menrollte. „Ichwünsche mir im Augenblick nur was zu trinken", sagte Cesare und leck– te dabei mit der Zunge über seine sprö– den Lippen. Paolo langte nach der Plastikfla– sche, die neben ihm auf einem Fels– klotz lag. ,,Für einen anständigen Schluck reichts noch, aber der Tee ist schon warm." Cesare nahm die Flasche, schraubte den Verschluß ab und trank. ,,Wir ha– ben verdammtes Glück gehabt mit dem Wetter - was!" Paolo nickte. Er stand auf und reckte seineArmeindieHöhe. Vonuntenmuß– te es aussehen, als würden seine Fin– gerspitzen den Himmel berühren. Der Gipfel war in etwa dreitausend Meter Höhe, und die Kante war knappe vier– hundert Meter hoch. ,,Herrlich dieses Wetter", sagte Pao– lo. Dann sah er jedoch mißtrauisch in die Sonne, und er blinzelte dabei kaum mit den Augen, die sich an das grelle Licht schon gewöhnt hatten. ,,Beinah zu schön", murrte er. ,,Im August gibts immer Gewitter, jeden Tag. Ich hab hier noch in keinem Jahr erlebt, daß das Gewitter nicht gekommen ist, an keinem Tag." Dann packten sie ihre Rucksäcke und stolperten vomGipfelfeld hinunter über das Geröll bis zum Abseilweg. Paolo nahm das eine Seil und zog es durch den ersten Ringhaken. ,,Hast du die Leute gesehen, wie sie alle herauf3 gegafft haben, als wir am Mittelstück derKante waren, bei dem langen Quer– gang. Ich glaub, ich werds in Zukunft auch so machen, einfach schauen, das strengt nicht an und ist ungefährlich. Muß doch eine tolle Sache sein, ande– renbeimKletternzuzuschauen, wie sie sich schinden und abquälen und am liebsten in den Fels hineinkriechen würden." Cesare grinste : ,,Wenn ich ein alter Mann bin, werdichauchzusehen. Aber jetzt, jetzt bin ich noch jung." Paolo wollte gerade das Seil abzie– hen, als zwanzig Meter über ihnen ein Kopf auftauchte, und dann sah er die winkende Hand und hörte die kräch– zende Stimme. Aber er konnte kein Wort verstehen. Der mit der krächzen– den Stimme mußte Franzose sein. Dann tauchte noch ein zweiterKopf auf und eine zweite Hand, die auf das pen– delnde Seil zeigte. Jetzt verstand er: Abseilen wollten sie sich, an einem Seil. ,,Si, Si", rief er hinauf, ,,kommt runter, wir warten". Als auch die beiden Franzosen auf dem Standplatz angelangt waren, hatte Cesare schon das zweite Vierzig– meterseil durch den nächsten Abseil– haken. gefädelt. Dann ging es rasch weiter. Seil abziehen, Seil einfädeln, abseilen, Seil abziehen, Seil einfädeln, abseilen - sechs-, sieben-, achtmal. Dann standen sie imGeröllfeld amFuß derWand, inder Schlucht zwischen der Großen und der Kleinen Zinne. Die bei– den Franzosen lächelten, bedankten sichmit einemkurzen herzlichen 'mer– ci', dann liefen sie hinunter. Paolo und Cesare lächelten auch. ,,Ich hab fast kein Wort verstanden", sagte Paolo, ,,nur 'Spigolo Giallo' hab ich gehört und 'gestern'. Ich glaube, die haben gestern auch die Kante gemacht." 33
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