Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1990

So stieg ich neben meinem Vater in freudig-banger Erwartung die etwas steilen Stufen aer Treppe in das zweite Stockwerk des Hauses der Rosa Ecke hinauf. Schon daß man an der breiten Glaswand mit der Tür auf einen Klin– gelknopf drücken mußte, war für mich eine große Neuigkeit; denn an unserer Wohnungstür gab es keine Klingel, da klopfte man einfach an die Tür. Das war a lso, man bedenke, im ersten Jahr des Ersten Weltkrieges. Meister Ehgartner öffnete nach einer Weile die Tür und begrüßte mei– nen Vater höflich, er war für ihn eine Respektsperson . Die ganze Stadt fürchtete ihn wegen seiner Strenge, nicht zuletzt die heranwachsenden Bu– ben, die stets Lausbuben sind. Aber Po– lizisten sind nicht nach ihrem Ge– schmack, vor allem solche, wie mein Vater einer war. Das habe ich aber erst viel später sagen hören. Damals war ich Angestellter in den in der ganzen Welt bekannten Steyr Werken AG. und hatte viel mit den Arbeitern zu tun. Einmal fragte mich einer, ob ich etwa ein Sohn des SicherheitsinspektorWat– zinger sei. ,,Den haben wir gefürchtet", sagte er. ,,Da habenwir uns schnell ver– drückt." Davon wußte ich selbstredend wenig, denn als Sohn dieses gefürchte– ten Mannes stand ich insofern immer außerhalb, kein Obstbaumbesitzer hätte mir, wie anderen Buben, eine Ohrfei_g-e verabreicht, sobald er mich beim Apfel- und Birnendiebstahl von seinen Bäumen erwischt hätte. Als Sohn meines Vaters genoß ich gerade– zu Immunität. Allerdings hat mich kein Obstbaumbesitzer je erwischt. Der Schneidermeister führte uns in seinen großen Arbeitsraum, in sein Atelier, und bot uns Sitze an. ,,Das ist also der jünste Watzinger", sagte er. ,,Und dem soll ich einen Matrosenan– zug anmessen. Dein Vater hat es mir schon gesagt. Du brauchst keine Angst zu haben. Dabei geschieht dir nichts." Er lachte. Er dachte wohl, ich i;;ei als Nachzögling der Familie ein verwöhn– ter Bengel, so ein richtiges Nestschei– ßerl, wie man solche Burschen bei uns nennt. Das wurmte mich, und ich woll– te es ihm heimzahlen. Aber dessen be– durfte es gar nicht, denn der Mann ver– zog auf einmal sein Gesicht und griff sich auf die Schulter. ,,Das verfluchte Rheuma", sagte er. Fast hätte ich ge34 lacht. Er wendete sich zu mir her und ließ mich nicht aus den Augen: ,,Wenn du einmal so alt bist wie ich, hast du be– stimmt auch.das verdammte Rheuma oder eine Ischias." Natürlichwußte ich weder etwas von Rheuma noch von Ischias, die arge Schmerzen verur– sachten. Wassollteichnunsagen? Rat– los blickte ich auf meinen Vater, der aber keine Miene verzog. Der Schnei– dermeister machte ein finsteres Ge– sicht. ,,Ja, die Jugend weiß noch nichts davon, nicht wahr, Herr Inspektor. Mir gehts wie einemHund auf drei Haxen." Mit einem- solchen Wort wußte ich noch weniger anzufangen. Aber der Hund auf drei Haxen gefiel mir, so et– was hatte ich noch nicht gehört. Wer weiß, was dahinter steckte. Schließ– lich war bei einem Erwachsenen alles bedeutsam, was er tut und was ihm ge– schieht, vor allem gerade dann, wenn mandavonkeineAhnunghat.Ichstand und blickte auf den Schneidermeister, der mir jetzt uralt vorkam. Und wie ging es denn einem Hund auf drei Ha– xen? Die Erwachsenen hatten so viele Sachen für sich, die ein Kind oder ein Heranwachsender nicht hat, aber sie sagen nie, wie man dazu kommen und wie man sie wieder wegbringen kann. In diesem Augenblick fiel mir mein neuer FreundWolfgang ein, der mußte mir dieses Rheuma oder dieses Ischias erklären.Es mußte nichts Alltägliches sein; denn weder meine Mutter noch mein Vater hatten einmal von ihnen gesprochen. Ich stand da und blieb stumm. Ich schämte mich, daß ich von diesen Dingen noch nichts wußte. ,,Also", sagte da der Schneidermei– ster zum zweitenmal, ,,ein Matrosen– anzug soll es sein. Gut. Ich werde dir einen anmessen." Bei diesenWorten fühlte ich mich gar nicht wohl. Ich hoffte nur, daß mir dieses Anmessen nicht wehtun werde. Aber nichts dergleichen geschah. Ja, als wir uns verabschiedeten, sagte der Schneidermeister zu meinem Vater : ,,Ihr jüngster Sohn ist sehr verständig." Mein Vater maß mich von Kopf bis Fuß und sagte: ,,Manchmal. Haben Sie Kinder gehabt?" Der Schneidermeister schüttelte den Kopf. ,,Einen", sagte er, schwieg dann jäh.

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2