Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1989

Richard Hofbauer: ___ _______________ Erlebnis im Fels Als Michael Seittner die letzte Kanzel vor dem Einstieg betrat, stieg die Sonne über dem Grad im Osten . Er zog das lockere Seil ein wenig an und rief hinab: ,,Griff!" An der Wand hatte er guten Stand gefaßt und verfolgte aufmerksam die Bewegung des Seiles. Ein paar Minuten danach griff eine Hand über den Felsvorsprung, eine zweite kam herauf. Als Hanne Wegner den Felsabsatz überwunden hatte und sich erhob, atmete sie erleichtert auf. Sie stellte sich neben Michael und tat einen kurzen Blick in die Tiefe unter ihr. In dem samtenen Kletteranzug stand sie schlank und sehnig da wie ein Mann. Sie war nicht viel kleiner als ihr Bergkamerad, und ihr lichtes Haar spielte im Morgenwind. „Der Anfang wäre hinter uns. Und der Tag hä lt sicher aus. Meinen Sie nicht auch?" fragte sie jetzt. Ihr Begleiter nickte nur, dann ließ er sich nie der und zog die Kletterkarte heraus. „Da sitzen wir", deutete er auf einen Punkt der Karte. ,,Der gewöhnliche Anstieg auf den Faulkogel führte jetzt rechts hinein in die Kluft, dort oben auf das Band hinaus, dann über ein paar Platten und durch einen steilen Einriß, zuletzt über leichte Gratstufenhinauf." Während --er dies sagte, zeigte er bald auf der Karte, bald a m Berg selber die Linie. Hanne hörte aufmerksam zu. Aber sie spürte, daß er noch etwas sagen wollte. ,,Und dann?" fragte sie. „Dann wären wir oben. Aber - es gibt noch eine zweite Route. Sehen Sie herüber : Links unter dem Wandabbruch hindurch und durch einenKamin hinauf zum Ostgrat . Diese Route hat erst einer beschritten - Heinz Waldauf ." Bei den letzten Worten sah Michael unsicher an seiner Begleiterin vorbei. Hanne Wegner wurde rot , als sie den Namen hörte. Doch faßte sie sich rasch und sagte: 46 „Eine zweite Route? Sie wollen diese kennenlernen. Die gehen wir !" Sie merkte, daß sie ihrem Gefährten aus der SeelB gesprochen hatte. Anfänglich gestattete es die weitere Kletterei , daß sie zuweilen in eine leichte Unterhaltung verfielen . „Faulkogel!" sagte Hanne Wegner einmal. ,,Wie kommt der Berg zu diesem Namen?" „Leicht wird das nicht mehr zu sagen sein. Ein uralter Name, abgeschliffen durch die Mundart . Aber vielleicht stimmt diese Erklärung: Der Kalkstein des Gipfelaufsatzes ist mürbe und bricht leicht . Durch den faulen Stein entstanden auch die dolomitischen Formen des Berges." Dann im Kamin versiegten die Wor- - te. Jedes hatte genug mit sich selber zu tun. Hanne war nicht unerfahren im klettern . Als sie unten auf dem Band wartete, bis Michael den Kamin durchklettert hatte, mußte sie an den Mann denken , dessen Name unten beim Einstieg gefallen war. Vor ein paar Jahren hatte sichHeinzWaldauf anHanne herangemacht. Aber die Art, wie er sich ihr näherte, widerstrebte ihr. Sie wies ihn ab. Später einmal erfuhr sie, daß Heinz großspurig erzählt hatte, er hätte Hanne Wegner haben können, aber mochte eben nicht. „Hallo, Einstieg!" rief jetzt Michel von der Höhe herab. Er stand auf dem ersten Kaminabsatz und zog langsam das Seil ein. Es war noch früh im Jahr, der Kamin glänzte anwenigen Stellen noch feucht , aber im trockenen Stein ließ sich's gut klettern. Hanne gehorchte blind jedem Anruf. Sie gab sich mit froher Sicherheit der guten Führung ihres Gefährten hin. Als sie keuchend wieder neben ihm stand, glänzte Schweiß an ihren.Schläfen . Sie nickte lächelnd dem Kletterkameraden zu . Michel stieg auf Erkundung um einen Wandvorsprung. Als er zurück-

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