Veronika Handlgruber-Rothmayer Makabres Lied Ich habe nirgends ein warmes Nest. Ich hungere, friere und fluche. Weh ihnen! Dem Mörder, der Dirne, die mich beschworen auf sündiger Suche! Ich hab' mich an Evas Apfel verschluckt, verdammt schon als Frucht im Schoße der Mutter, die längst gerichtet war. Ich tanz' mit der Pest in der Gosse, (den wirbelnden Blättern ähnlich im Wind) und brauch' nicht mein Antlitz zu schwärzen. An meinem Sarg brennt der Docht des Hohns statt weißer, wächserner Kerzen. Ich geh' durch die Türen der Reichen im Takt marschierender Heere und Büßer, und atme beklommen den Hauch ihrer Lust: Das heimliche Laster schmeckt süßer. Manchmal vergeß' ich, daß ich noch bin ... Das Mitleid hat mich verloren, wie einer die Traumspur im Nebel verliert, und wähnt, er sei nie geboren . .. Der Oberste sprach wieder leise mit seinen Awaren. Wahrscheinlich hatte auch er daraufnoch keine Zustimmung erwartet, sondern die Frage nur sondierend gestellt. Jetzt sprach er seine realen Forderungen an den Herzog aus: ., Wir brauchenWaffen - nicht gegen die Baiern - gegen Byzanz! Wir ziehen die Reiter von eurer Grenze zurück und bieten zwanzig Jahre Frieden!" Auf einmal fühlte sich Tassilo leicht und frei. Die Awarenreiter weit von Bayerns Grenze, volle Kassen, um sej.n eigenes Heer besser auszurüsten - im Geiste sagte er bereits zu. Tassilo pfiff leise durch die Zähne. Seine Eisenschmieden in Tirol, in Karantanien schufen die besten Waffen. Braucht er nicht auch dringend Geld für seine ständig leeren Kassen? .,Waffen? Würdet ihr sie bezahlen?" .,Wir bezahlen jeden Transport sogleich an der Grenze!" „Habt ihr Vollmacht für den Vertrag?" Der Oberste besaß sie. Ein jüngerer Mönch des Klosters beherrschte die Kunst des Schreibens in Latein. Er setzte ein knapp diktiertes Pergament in zwei Gleichschriften auf, und Tassilo überreichte eines dem Obersten. .,Bring es demCagan und kehre mit seinerUnterschrift zurück. Dann sollst du die meine haben. Von diesem Tag an gilt unser Vertrag!" Er begleitete die Gäste bis an das Klostertor und unterhielt sich jetzt laut und lachend mit ihnen . .,Ein Tag des Erfolgs!" dachte er befreit, als er 39
RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2