Veronika Handlgruber-Rothmayer: Die häßliche Anna Mit derHerzlosigkeit der Jugend und der Grausamkeit derer, die durchMangel an harter Lebenser~ahrung und eigenem Leid noch keine tiefere Schau gewonnen haben, verfolgtenwir sie mit Spott und Bosheit. Freilichwar uns niemals recht wohl bei diesem schändlichen Treiben, denn die „schiache Anna" - im ganzen Dorf wurde sie nicht anders genannt - begegnete ihm keineswegs so, wie wir es gewünscht hätten. Sie verstand es, unsere Spottlieder und Schandverse, in welchen wir ihre körperlichen Mängel besangen und verhöhnten , zu überhören, und sie tat dies mit einer so erhabenenAusdauer, daß uns junge Frevler oftmals heimliche Zweifel befielen, ob sie nicht auch taub sei, und stumm dazu; denn Anna gab uns nie ein böses Wort, obwohl wir es oft verdient hätten. Ihre mißförmige Gestalt und ihre häßlichen .Gesichtszüge gehören ebenso unauslöschlich zum Bild meiner Kinderheimat wie etwa der alte Nußbaum neben dem Friedhofseingang, auf dem wir uns einmal einen sogenannten „Hochsitz" gebaut hatten, um die Kirchenbesucher besser mit Kirschenkernenbewerfen zu können ; oder die sanfte braune Stute Nina, mit der KasparBraun, derMilchhändler, seine glänzenden Kannen zur Bahn fuhr. Da Anna, die allein m it ihren Ziegen, Hühnern und Katzen in einer ärmlichen Hütte am Dorfabend hauste, für uns ein völligalters-und geschlechtsloses Wesen war, überraschte uns junges Volk die Nachricht sehr, die von einem größeren Mädchen in unseren Kreis getragenwurde: Die schiache Anna, so erzählt die Freundin, habe ein Kind bekommen. Weil uns damals seelische Probleme noch ferne lagen, kreisten unsere Gedanken nicht gleich jenen der Erwachsenen um die geheimnisvolle Vaterschaft des Kindes, sondern um ganz andere Dinge.Wir rätselten nicht j ener Tat nach, die vermutlich ein Akt gemeiner, mißbräuchlicher Gewalt gewesen, wir wollten vielmehr wissen, ob 34 das kleine Wesen der Anna nachgeraten sei, ob es ihr an Häßlichkeit gleichkäme und so dazu bestimmt war, ein neues Objekt unserer boshaften Verfolgung zu werden. Die frevelhafte Neugierde fraß ·sich dermaßen in uns hinein, daß wir beschlossen , unseren gewohnten Spielplatz beim Brunnen aufzugeben und in unmittelbarer Nähe des Häuschens zu bleiben, in dem Anna wohnte. Dort, am Dorfrand, war der Weg staubig und · schottrig, und das Spiel machte uns keine besondere Freude. Wir konnten abe r die wackelige Türe ständig beobachten und ab und zu sogar in die kleinen, mit dunkelroten Vorhängen nur wenig verdeckten Fenster lugen, hinter denen sich Dinge abspielen mochten, die uns seltsam erregten. Allein, unsere Neugierde wurde nicht befriedigt: Das,.Kind der häßlichen Anna starb nämlich, bevor wir es überhaupt zu Gesicht bekommen hatten. Wohl rührte an unsere jungen, oberflächlichen Herzen leise die Frage nach dem Sinn dieses kurzen Lebens, das, aus einem rätselhaften Dunkel kommend, die freudlose, gefahrenreiche Gegenwart nur gestreift hatte, um sich gleich wieder auf die Reise in ein vielleicht besseres Jenseits zu begeben ... Doch all das bewegte uns schließlich zu wenig, um uns wahrhaftig aufzuregen und uns aus unserem verspielten, dörflichen Alltag aufzuschrecken. Nur an etwas kann ich mich noch genau erinnern, so klar und eindringlich, als hätte es sich erst gestern zugetragen: Das ist der herbschöne Herbsttag mit jener wehmütigen, gläsernen Bläue über den abgeernteten Feldern, an dem das tote Kind der Anna begraben wurde. Das ganze Dorf beteiligte sich mit unverschämter Selbstverständlichkeit an der Beerdigung des armenWesens, das kaum jemandgesehen hatte, für das niemand Zuneigung verspürte und für dessen Mutter man
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