Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1987

UNTERHALTUNG MargareteGrtindler Dei weiße Ral,e Julian war Tierpräparateur. Ehemals hatte er das Tischlerhandwerk erlernt und sich selbständig gemacht, aber seit die Leute lieber neue Serienmöbel erwarben, als sich Tisch- und Stuhlbeine ihrer alten instandsetzen zu lassen, ging das Geschäft schlecht und so sattelte erzu demvielleicht seltenen Metier eines Tierpräparateurs um, dessen Fertigungen von Schulen, Sammlungen und Museen gefragt waren, zumal ja eine eigene Vorliebe und feine Hand dazugehörte, die nicht jedermann zu eigen war. Julians Tätigkeit beschränkte sich auf kleine Tiere, vornehmlich auf Vögel und empfand eine besondere Neigung, sie nach ihrem kurzen Erdendasein weiterleben zu lassen, ihrer Art und ihren Gewohnheiten vor der Nachwelt Ausdruck zu verleihen. Als die Witwe Jacober das Ansinnen an ihn stellte, ihren Pudel Xerxes ausstopfen zu lassen, hatte er abgelehnt. Seither dankte sie ihm nicht mehr für seinen Gruß, den er schließlich unterließ, denn er machte sich nicht viel aus der Zuneigung des weiblichen Geschlechtes und schongar nichts aus der Witwe Jacober. Früher war er verheiratet gewesen, doch seine Angetraute behauptete, daß sein Handwerk stinke und seine ehelichen Beziehungen nicht ausreichten, um einer lebenshungrigen Frau gerecht zu werden. Schließlich hatte sie mit einem heißblütigen Afrikaner das Weite gesucht . Julian trauerte ihr nicht nach, er war eben anders und so zog er sich zurück, nur seiner Arbeit und seiner Neigung lebend. Soeben hatte er einen Vogel vor sich, ein absonderliches Exemplar, einen weißen Raben . Es ist ein Albino, hatte der Professor gesagt, der ihm dieses seltene wertvolle Stück anvertraut 3 hatte und ihm auftrug für dessen Bearbeitung besondere Sorgfalt zu verwenden. Als Julian den Balg vorsichtig vom Körper löste, merkte er unter einer kleinen Hautverletzung, daß das Genick des Vogels gebrochen war, vermutlich durch den Eingriff eines Artgenossen, der das Andersgeartete seines Sippenbruders nicht ertragen konnte. Julian verfiel ins Grübeln, es hinderte ihn am Weiterkommen in seiner handwerklichen Tätigkeit, so war das also ... Doch am nächstenMorgen stürzte er sich wieder in die Arbeit, vergaß die Mittagsstunde, schaffte bis tief in die Nacht. So ging es einpaar Tage, immer nur ein Griff und dann langes Überlegen, bevor er den zweiten Tat. Als der Professor kam, die Trophäe abzuholen, betrachtete er sie lange. Julian starid klopfenden Herzens daneben, fast befürchtete er einen Einwand des Gestrengen, aber wenn dem auch so gewesen wäre, hätte er es nicht anders machen können, nicht eine Neigung des Körpers, nicht die Lage eines Federchens, vor allem nicht den Ausdruck des Abstandnehmens und doch stillen Ergebens und Erdulden seines Geschickes. - Wunderbar, sagte der •Professor, wunderbar, dabei sah er abwechselnd Julian und den Vogel an. Verzeihen sie, Meister, trägt diese kleine Kreatur, die so anders ist, nicht ihre Züge? Julian kann seine innere Erregung kaum verbergen; verzeihen sie, sagt der Gelehrte, ich wollte sie nicht kränken, im Gegenteil ... Da ergreift Julian die Hand seines Gegenüber: ich danke ihnen, sie haben mich sehr glücklich gemacht, denn sie sind einMensch, der mich verstanden hat. 33

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