Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1986

Veronika Handlgmber-Rotb.m.ayer: 1111D 11111 IIIIE IIIIFIIIILIIIILJ~IIIC IIIIHllllllllr Das Schiff im Hafen stand zur Ausfahrt bereit. Es wa,r ein großer Passagierdampfer, der hunderte von Menschen über's Meer bringen sollte: Auswanderer, Gestrandete, Abenteurer, Leute, die „drüben" ein neues Leben beginnen wollten. Hier wurden, im Schein der sinkenden Sonne, die den Hafen seltsam verklärte, Herzen getrennt, einander in Liebe, durch Haß oder in. stumfer Gleichgültigkeit verbunden, und viele der Namenlosen, die leicht oder ~chwer die Unerbittlichkeit dieses Abschiedes auf sich nahmen, wußten, daß sie einander nie mehr sehen würden. „Wirst du mir auch bestimmt schreiben, Jens?" fragte das blasse .Mädchen am Arm des Mannes, zu dem es mit verweinten Augen aufblickte. Der Angesprochene schaute unruhig umher, während sie beide von der wogenden Menge ärmlicher Passagiere über die Schiffsbrücke gedrängt wurden, dem Inneren des Ozeanriesen entgegen. „Du hättest nicht mitkommen sollen", sagte der Mann u~geduldig und versuchte, sich von seiner Begleiterin zu befreien. Offensichtlich war es ihm lästig, die Berührung der hau, die zu verlassen er sich entschlossen hatte, noch immer zu spüren . . . ,,Ich werde dir schreiben, ja ... aber jetzt geh, hörst du? Geh endlich!" Anke warf Jens einen verzweifelten Blick zu. ,,Ich weiß, du wirst nicht wiederkommen, ich fühle es ... " Ihre mageren Finger gruben sich in den muskulösen Arm des Mannes. ,,Unsinn!" zischte er gereizt, ,,natürlich werde ich schreiben ..." Sekunden lang war etwas wie Mitleid in seinem kalten, verschütteten Herzen, Mitleid mit ihr, die blaß und trostlos neben ihm ging und um ihn weinte. Anke liebte ihn, bedenkenund bedingungslos, und Jens hatte diese Liebe hingenommen wie etwas, das man jederzeit wegwerfen konnte ... Er war ein Schuft! ,,Ich werde dir bestimmt schreiben", wiederholte er mit schmalen Lippen, obwohl er wußte, daß dieser Abschied endgültig war. In jäher Wendung warf sich Anke an ihn, schlang ihre mageren Arme um seinen Hals und preßte einen letzten, verzweifelten Kuß auf seinen Mund. Jens stieß sie heftig von sich. „Geh jetzt, hörst du, geh!" Es waren seine letzten Worte. · Tränen liefen über Ankes blasses Gesicht als sie umkehrte, doch der Mann sal1 es nicht mehr. Vielleicht wäre er sonst doch unschlüssig geworden. Seine Freundin war immer gut zu ihm gewesen, hatte alles für ihn getan. . . Vielleicht hätte er sie eines Tages auch geheiratet, wenn nicht ... Verdammt! Warum dachte er noch inlmer daran; jetzt, da er gerettet war und sich so gut wie in Sicherheit befand. Jens wollte 1 e - b e n, auch wenn es ohne Anke sein mußte! Leben! Ihr zuliebe wollte er nicht seine Freiheit auf's Spiel setzen, oder gar seinen Kopf riskieren! Niemand auf der Welt konnte das von ihm verlangen! Er schaute noch einmal kurz zurück. Und plötzlich sah er sie wieder in der vielköpfigen Menge, die dem Hafenausgang zuglitt, sah die rote Mütze, an der er Anke so oft von weitem erkannt hatte. Zärtlichl,eit wollte ihn überwältigen. Doch er schob das Gefühl der Rührung zornig von sich, spuckte verächtlich aus und schalt sich einen Weichling, der bei Erinnerungen sentimental wurde. Er hatte Anke verloren, ja! Doch mit ihrem Verlust hatte er ein Leben in Freiheit wiedergewonnen, das zu verspielen er ganz nahe gewesen. Das 37

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