Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1986

UNTERHALTUNG ··~as ~esielit Von Henri Barbusse ,,Ja so", sagte Etienne, ,,wißt ihr, daß ich mich scheiden lasse? Nein? Nun, es ist so. Die nötigen Schritte sind schon eingeleitet: Jeannine und ich werden unsere intimen Angelegenheiten Leuten 1:mterbreiten, die uns nicht näher kennen werden wie ein Arzt. Wenn diese Leute da.nn unser Leben ergründet haben werden, werden wir es verlassen. Ich weiß nicht, was aus ihr werden wird, und ich weiß noch weniger, was mich nun an den Tagen, an den Abenden ausfüllt, an denen sie mich nicht mehr erwartet. Vor ungefähr zwei Jahren, verdunkelte sich mit einem Schlag unser ' Glück. Jeannine veränderte sich: Es waren die ersten Anzeichen ihrer merkwürdigen, unerklärlichen Krankheit. Sie wurde zerstreut, reizbar, schwermütig. Sie begann, sich über Dinge zu beklagen, die immer so gewesen waren. Zum Beispiel, daß man am Abend nichts miteinander unternahm, als einander gegenüber zu sitzen. Ich versuchte, sie in Güte zur Vernunft zu bringen - obgleich ich im Grunde ein wenig von dieser Ungerechtigkeit. verletzt war . . . Erst schwieg sie dazu, dann begann sie zu streiten - ihr Zustand wurde ernster -, sie wurde zänkisch und böse, ging so weit, mir alle möglichen Tiernamen zu geben und hielt mir entgegen, daß andere Leute und unsere Nachbarn, die mindestens ebensoviel arbeiten wie ich, doch immer wieder die Möglichkeit fänden, sich zu zerstreuen . . . Es war die Hysterie mit all ihren Schrecken. Der Doktor Gazeneuve, zu 2 · \ dem ich eines Morgens, bevor ich nach Hause ging, gelaufen war, versicherte es mir und verordnete Brom und ein Leben ohne Aufregung. Ich stotterte bestürzt das Wort ,Verrückt'?. Er schüttelte den Kopf, riet mir dann mit einem gütigen Lächeln, zu hoffen, nach dem, was ich über das ,Allgemeinbefinden des armen Kindes1_· gesagt hatte. Ich war sehr unglücklich, ich bedauerte sie. Und dann ha.tte ich, wie alle gesetzten und nüchternen Menschen, Angst vor allem, was nicht normal, was krankhaft, rätselhaft ist ... Ich hätte lieber ein gebrochenes Bein nachgeschleppt als eine Frau deren Vernunft ins Wanken geraten war und die von Halluzinationen geschüttelt wurde wie ein Fetzen . .. Da kam der bewußte Sonntagabend. Dieser Abend war vor allem deshalb bemerkenswert, weil er sich durch nichts Besonderes auszeichnete. Er war den vergangenen genau gleich, und alle glichen sich wie ein fallender Wassertropfen dem andern. Es war unser Zimmer, es waren unsere Sachen, wir waren es. Wir saßen jeder in seinem bequemen Stuhl, jeder in seiner Kaminecke. Auf der grünen Tapete hatte der englische Kupferstich seine wohlbekannte Unbeweglichkeit bewahrt. Die Hängelampe war da mit ihrem klirrenden Zittern, wenn der Autobus vorbeifuhr, und das Ticktack der Uhr fuhr fort, zugleid1 Lärm und Stille zu sein. Mit abwesendem Blid< schaute sie vor sich hin. 33

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