· f ünfJig Schritte JU wenig Von Karl Springenschmid Heut haben wir ihn begraben. Ein guter Mensch der Lorenz Dengler, unser Altbürgermeister. Das ganze Dorf war dabei. Fünf Reden sind gehalten worden. Sogar der Bezirkshauptmam1 August Bernegger hat gesprochen. Aber wie der Schlossermeister Hödlmoser, der mit ihm in Dernijansk war, auf seinem Flügelhorn den 11Guten Kameraden" geblasen hat, sind alle Augen feucht geworden, auch die meinen, da.s gebe ich offen zu; denn ich hab den alten Dengler gern gesehen, ein fröhlicher Mensch, das war er, und urgesund, nur etwas gewichtig vielleicht. Doch das hing mit seinem Beruf zusammen. Er war nämlich Metzgermeister. Doch hatte er schon vor vielen Jahren das Geschäft seinem Sohn übergeben und sich zur Ruhe gesetzt. Auf dem Heimweg ins Dorf gerate ich an den Josef Wasler, unseren Friseur. Doch Friseur ist zu wenig gesagt; denn der Wasler ist nicht einer, der bloß den Anderen die Haare schneidet oder den Bart rasiert. Er versteht sich, wie niema.nd sonst, auf das Medizinische. So oft ich in seine Ordination komme, um mir die Haare schneiden zu lassen, bekomme ich einen medizinischen Rat und gewiß keinen schlechten. 11Woran ist er eigentlich gestorben, der Herr Altbürgermeister?" frage ich so nebenhin. Meine Frage aber trifft ihn genau; denn sie schlägt gewissermaßen in sein Fach. Unvermittelt bleibt er stehen und blickt mich durchdringend an. Es ist der gewisse Diagnoseblick, den wir so sehr an ihm schätzen. Doch nicht um mich geht es. 11Sein Auto hat ihn umgebracht! " stellt er sachlich fest . ,,Wie? Ein Unfall?" „Nicht da.s! Aber ein Auto kann einen Mann wie den alten Dengler, einen Mann, sage ich, der an sich gesund ist, auch auf andere Weise umbringen. Das heißt, er stirbt so, wie er gelebt hat. Und wie hat der alte Dengler gelebt? Ich weiß es: Wenn er nicht liegt, dann sitzt er, wenn er nicht sitzt, dann · liegt er -:-- und jetzt kommt's! - und, kommt er mit Liegen oder Sitzen nicht mehr aus und soll sich bewegen, setzt er sich in seinen Wagen und läßt das Auto tun, was er eigentlich selbst tun sollte!" Der gute Wa.sler hat sich richtig 41 Eifer geredet. Am Rockknopf faßt er mich und zieht mich ganz nahe zu sich heran. „Beispielsweise: Alle vier Wochen muß sich der Herr Altbürgermeister die Haare schneiden lassen. Also kommt er zu mir. Aber wie? An sich kein weiter Weg von der Me tzgerei Dengler bis zu meinem Laden, fünfzig Schritte kaum. Aber fünfzig Schritte? Wer kann ihm das zumuten? Der Lorenz Dengler ist doch ein moderner Mensch, das heißt, ein Mensch, der mit der Zeit geht, genauer gesagt, ein Mensch, der mit der Zeit fährt; denn wo andere Menschen Füße haben, hat er, der Dengler, Räder. Pneus. Also, wenn die Haare zu lang geworden sind, drei Schritte bis zur Gara,ge. Dort steht sein Wagen. Wie ein Anderer sich mit dem Schuhlöffel die Schuhe anzieht, zieht er sich den Wagen an, den er genau nach seinem Format ausgewählt hat, setzt sich hinein, braust zweimal um die Ecke heru:Q'.1 und schon ist er bei mir. „Haarschnei-den, Bader!" schnauft er. Er schnauft wie einer schnaufen 51
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