Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1981

Am Nachmittag hatte die Mutter den Buben im ganzen Haus gesucht. Als sich auf das Rufen nichts regte, wurde ihr allmählich bang. Sie wußte, daß er ein vorwitziger Knabe war, der alles ausprobieren wollte, was ihrn unter die Hände kam. Dem kleinen Jörg fiel ein, daß es Florian beklagt hatte, die andere Seite des Waldberges nicht gesehen zu haben. Ein heißer Stich ging der Mutter durch das Herz! Wenn der Bub nur in den Wald hinaufgelaufen wäre, müßte er doch schon längst wieder zurück sein. Sie mußte jäh an den schwarzen Waldteich dort oben denken. Da hielt es sie daheim nicht mehr. Die Großmutter mußte die Kinder versorgen. Sie aber lief den Waldweg hinauf. Am Mittag war sie noch inmitten ihrer Kinder glücklich den Weg herabgewandert - und nun fehlte eines! Was galten alle Güter der Welt gegen ein Kind! Oben wuchsen die Schatten schon weit in die Felder hinaus. Wenn es Abend wurde und sich Florian noch immer nicht fand, was dann, was · dann? Jenseits der Waldhöhe lag zwischen Buschwerk der Waldteich. Unbewegt rµhte sein schwarzer Spiegel in der Tiefe des steilen, abschüssigen Uferrandes. Dort drüben schwamm ein dürrer Zweig. „Nein, nein, heilige Maria, laß es nicht zu!" flüsterte sie und faltete die Hände. Die Mutter hatte kein Zeichen für oder gegen ihre Befürchtung gefunden. Mit einer nie gefühlten Mattigkeit schritt sie höher den Berg hinan. Vielleicht hatte der Bub einen Ausblick gefunden und war im Walde eingeschlafen. Sie spürte, daß es ein geringer Trost war, aber sie klammerte sich doch an diese leise Hoffnung. Je höher sie stieg, desto dichter wurde der Wald. Nirgends gab er einen Durchblick frei Sie wagte nicht einmal mehr zu rufen. Die Stille lastete unerträglich auf ihr. Da hörte sie sich plötzlich gerufen: ,,Mutter, Mutter!" Schwach drang der Hall bis zu ihr. Sie· lief atemlos höher und in der Richtung des Rufes. So fand sie den Buben. Als sie sich über das Kind beugte, da lächelte Florian mitten in seinem Schmerz. ,,Ach, Mutter, ich habe weit in die Welt hinausgeschaut, bis dort wo der Himmel anhebt!" Die Mutter riß ihre Schürze in Streifen, die schöne geblumte Schürze, die heute schon so fröhlich im Wind geflattert hatte, und umwikkelte den geschwollenen Fuß. Florian verhielt jeden Schmerzenslaut, ' als ihn die Mutter auf ihren Rücken nahm und abwärts trug. Tiefer unten, als der Waldschlag sich öffnete, sagte Flo:ti;i.an leise: ,,Die Waldgeister, Mutter, die haben mir nichts tun können!" „Ach, die Waldgeister!" sagte die Mutter, Dein Schutzengel hat Dich bewahrt!" Daheim betrachteten die kleinen Geschwister den Bruder mit erstaunten Augen. ,,Bist du ganz oben gewe. sen?" 'fragte ihn der stille Jörg. ,,Ganz oben!" nickte Florian heftig. Der Schmerz bohrte in ihm - doch eher wollte er sich die Lippen wund beißen, als daß er einen Wehlaut von sich gegeben hätte. Als abends alle vier Geschwister in ihren Betten lagen, da lebte das große Abenteuer des Florian vor den jungen Zuhörern von neuem auf. Da schritt der Bub hinan durch einen wüsten Wald, weiß Gott, wie lang. Immer wilder wurde die Gegend, immer dichter der Wald. Endlich stand er auf dem Gipfel. Und da sah Florian die ganze Welt von einem. Horizont bis .zum andern! Er lächelte, als er schon schlafträurnend schloß: "Wenn ich aber groß bin, da gehe ich so weit, bis ich mit der Hand den Himmel greifen kann!" Die Mutter hörte den Buben im Schlaf murmeln. Sie horchte auf seine· Atemzüge und fühlte mit ziehendem Herzen, wie nahe zu jeder Zeit Gefährdung und Glück-beisammen wohnen . . . 3T

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