Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1978

und Theresli noch auf dem Stubenboden und spielten mit Holzstückchen. „Wo ist Toni?" fragte sie mit einem jähen Unbehagen. ,,Er ist dir entgegengelaufen - ja, schon lange!" sagte Theresli. Es gab nur einen Pfad ins Tal. Vielleicht hatte er sieb. übermütig neben dem Weg versteckt und kam nun hinter ihr drein. Sie lief noch einmal hinab. 11Toni1 Toni!" rief sie, erst fragend, dann lauter. Sie lief durch den Orangenhain und schaute auf jeden Baum. 11Thoms! 11 rief sie erschreckter! ,Laß die Kinder nicht aus den Augen!' hatte ihr am Morgen die Mutter aufgetragen - nun war eines fort. Plötzlich stieg ihr eine furchtbare Ahnung herauf. Wenn der Bub hinter den Zwergpapageien hergelaufen wäre! Diese schillernden Vögel hatten ihn oft schon magisch angezogen! Sie lief noch einmal zu den kleinen Schwestern hinauf. ,,Toni, der Schlingel, hat sieb. versteckt!" verbarg sie ihre Angst. ,,Spielt schön weiter, bis ich mit ihm zurück komme!" Die Periquitos waren sicher vor Tonis zugreifenden Händen dem Urwald zugeflogen - irgendwo an seinem Rand mußte der Bub jetzt sein. Oberhalb der Kaffeepflanzung da wuchs ein Streifen Bergreis. N andi spürte durch das Gras herab schon die feuchte Kühle des Urwaldes. Sie erreichte eine Bodenwelle und rief laut über den Hang hin : ,,Toni, wo steckst du? (' Jetzt mußte er sich melden! Sie hielt den Atem an 1md lauschte - kein Laut kam aus der üppigen Wildnis. 11Seine Spur - wo ist die Spur von ihm!" flüsterte sie verzweifelt. Ein laufender Bub hätte bestimmt einen breiten Grasstreifen niedergetreten. Dort - wahrhaftig, da zog sich eine breite Spur durch das Gras! Diese konnte natürlich auch von einem Pecari, einem Nabelscb.wein, herrühren - aber die Spur brach nicht ab. Plötzlich stand Nandi vor der dichten Blätterwand des Urwaldes. Die 46 Fährte lief unter dem Dämmer der Blattpflanzen weiter. ,Das Mädchen verstand nichts von Spurenlesen, sonst hätte es nach Fußabd1ücken gesucht. Wenn Nandi jetzt umkehrte, dann gab sie alles auf. Ohne das Kind wagte sie sich nicht mehr zum Haus zurück! Mehr angetrieben als freiwillig, zwängte sie sich unter das dichte feuchte Blattgewirr hinein. Kolibri piepsten über ihr , ein unsichtbares Wild flüchtete aus der Nähe. Stumm in ihrem Jammer drängte sie sich unter einen Vorhang von Lianen, die voll leuchtender, lilaroter Blüten hingen. Ohne die sichtbare Fährte hätte sie sich keinen Schritt weiter in den Urwald gewagt. Von Zeit zu Zeit rief sie in die beängstigende Stille hinein. Sie füh lte, daß ihr Ruf nicht weit reichte. Der Widerschein der Sonne über dem U rwald verblaßte. Wenn sie aternlo lauschte, sang nur das Blut in iliren Ohren. In ihrer aufgescheuchten Phantasie aber wurde daraus das ferne Weinen eines verirrten Kindes. Sie tastete weiter durch die große Stille. Dort saßen wieder zwei Zwergpapageien! War Toni diesen gefolgt? Sie rief - nichts, nichts als Schweigen! In einer sumpfigen Niederung des Urwaldes schnitt eine zweite Spll.11' die ihre. Nandi bückte sieb. und fuh r mit der Hand tastend über den dämmerigen Boden hin. Jetzt erkannte sie deutlich und scharf eine Trittspur! Die Sohle eines Schuhes, ein sauber geschnittener Absatz - das war Ton is Schuh! Sofort schnellte sie wieder empor und rief so laut sie konnte: 11 Toni, wo bist du? Ich komme - ich komme !" Aber der Urwald schwieg auch jetzt. Bald überfiel sie der schlimmste Feind - die Dämmerung! Im tropischen Brasilien kam ohne Übergang gleid:i. die Nacht! Sie lief auf der Spur weiter, bis sie sich zuletzt nur noch tastend durch das Gestrüpp winden konnte. Wenn sie jetzt die Richtung verlor und sich immer weiter von Toni ent-

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