„Laß die Kinder nicht aus den Augen!" sagte am Morgen die Frau des Siedlers Egg zu ihrer vierzehnjährigen Tochter Nandi, bevor sie ihrem Mann auf dem Urwaldsteig ins Dorf hinab folgte. 11Kommt bald zurück, Mutter!" nickte das Mädchen und trat wieder in das alte Holzhaus zu den schlafenden Geschwistern zurück. Sie lief leichtfüßig an der Außentreppe zum Balkon hinauf und blickte im Morgendämmer den Eltern nach, bis die Gestalten zwischen Bananenbüschen und Kaffeesträuchern untertauchten. Tief im Urwald des brasilianischen Staates Espirito Santo lag wie eine Insel im endlosen Meer der grünen Wildnis die deutsche Siedlung 11Tirol" . Vor mehr als hundert Jahren war die österreichische Kaiserstochter Leopoldina die Gemahlin des Kaisers Pedro von Brasilien geworden. Sie hatte arme, landlose Bauen1 aus ihrem Vaterland eingeladen, ihr als Siedler über den Ozean zu folgen. über hundert Bauernfamilien hatten die Siedlungen 11Leopoldina" und „Tirol" gegründet und in harter Rodungsarbeit eine neue Heimat geschaffen. Vier Stunden Fußweg mußten Nandis Eltern bis zum Dorf hinab gehen, wo es auch eine „Venda", einen Verkaufsladen, gab. Sie konnten erst am späten Nachmittag wieder zurück sein. Nandi lauschte in die Kammer zu den schlafenden Geschwistern, dann stieg sie hinab in den Stall und begann die Kühe zu melken. Als die Kinder erwachten, stand sie wieder oben in der Küche und kochte die Morgensuppe. Draußen vor den Fenstern krächzten ein paar genäschige leuchtend blaue Periquitos, Zwergpapageien, und Toni, der siebenjährige Bub, sprang noch im Nachthemd jubelnd auf den Balkon hinaus. Theresli mit fünf Jahren und die kleine Maria mit ihren zwei Jahren kamen lachend hinterdrein 11Nandi, ich fange einen Periquito!" lief Toni heiß vor Eifer in die Küche zurück. 11Schnell, ich muß in das Gewand schlüpfen!" Nandi aber hielt ihn zmück. ,,Du bleibst da, mein Springinsfeld!" lachte sie. 11Wir bleiben heute schön beisammen!" Bis zum Mittag ging es auch ganz gut. Doch am frühen Nachmittag kam von der nächsten Siedlung, die eine halbe Stunde tiefer lag, der junge brasilianische Pean, Knecht, und berichtete atemlos: 11Nandi, zu Kreszenzia kommen, schnell, schnell! Mädchen hat sich mit Machette in den Fuß geschnitten, tief, tief - und alle großen Leute fort sein zum Dorf hinab!" Nandi erschrak heftig. 11Ich komme gleich mit, Pedro!" Sie nahm Verbandzeug aus dem Kasten und bot den Geschwistern streng auf: ,,In der Stube bleiben, bis ich wieder zurück bin! Toni, paß gut auf deine Schwestern auf!" Als das Mädchen nach zehn Minuten atemlosen Laufens die Nachbarsiedlung erreichte, war es höchste Zeit. Kreszenzia hielt mit einem Streifen Tuch die klaffende Wunde zu, doch zwischen den Fingern quoll es immer wieder rot hervor. Nandi band den Oberschenkel mit einem Riemen ab . Dann erst konnte sie einen dichten Verband anlegen. Sie hob das Kind empor und trug es auf sein Lager. 11Brav liegen bleiben, bis Vater und Mutter heimkommen!" tröstete sie m1d bot Pedro, dem verschüchterten Peon auf, in der Nähe der gefährlich Verletzten zu bleiben. Dann drängte es sie wieder nacli Hause. Das Haus der Eltern stand als letztes am Rande des Urwaldes. Sie lief bergan und hielt erst an, als sie wieder vor dem Haus stand. Alles ringsum war still. Brav sind die Kinder in der Stube geblieben! dachte sie. Als sie die Tür öffnete, saßen Maria 45
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