Der ungelesene Brief Kurzgeschichte von Mauro Pellegrini Nun war er wieder gegangen, und ich saß allein im Büro. Und wieder hat er mir nicht gesagt, daß er mich gern hat, daß er mich liebt, oder gar, daß er mich heiraten will. Dabei habe ich es doch in seinen Augen gesehen, daß er mich am liebsten in ,seine Arme genommen hätte. Warum ist er nrur so schüchtern, so furchtbar hilflos? Da:bei ist er doch sonst ein richtiger Draufgänger. Im Beruf ist er so tüchtig, ,im Sport eine Kanone. Und nun ist ,er ,gegangen und kommt mindes,tens ,drei Monate nicht zurück, bloß weil er die neue Niederlassung in Nouakchott einrichten muß. Was brauchen wir überhaupt eine Niederlassung in Mauretanien? Maria-Anna hatte Tränen in den Augen, als sie S!ich an die Schreibmaschine ,setzte und einen neuen Bogen einspannte. ..Mein lieber Franci1Sco", begann sie, und dann tanzten die Finger über die Tastatur und sie schrieb ihre Sehnsucht, ihren Schmerz und ihre Liebe hinaus. Das Schreiben befreite sie von ihI'er Angst. Sie fühlte sich getröstet, fast zuversichtlich. Zwei Seiten ,schrieb sie voll, und dann unterzeichnete sie mit schwungvoller Geste. Rasch schrieb sie den Umschlag, klebte eine Marke drauf und lief zum nächsten Briefkasten. Langsam schlenderte sie zum Büro zurück. Doch noch ehe sie das Büro erreicht hatte, begannen Zweifel in ihr zu nagen. Hatte sie so schreiben dürfen, durfte ein Mädchen überhaupt dem Mann, den es liebte, seine Liebe. erklären? Mii'de stieg sie die wenigen Stufen empor und setzte sich auf ihren Stuhl vor der Schreirbmaschrine. „Du machst ein Gesicht, als ob du Zahnweh hättest", lachte ihre Freundin, die mit ihr im gleichen Büro arbeitete. „Ist es denn so schlimm, daß Franci-sco verreist ist? Paß mal auf, wenn er wiederkommt, wird er sich erklären. Jetzt, wo er dich zum ersten Male seit drei Jahren nicht täglich sieht, wird er schon. merken, •daß er dich liebt." Maria-Anna begann zu weinen. ,,Es ist ja nricht, weil •er weg ist" , schluchzte sie. .. Es ist weil ich ihm einen so saudummen Brief geschrieben habe. An das Hotel in Mad.ri,d, wo er doch bis morgen bleiben muß, ehe er weiter fliegt." „Vierleicht war der B))ief gar nicht so saudumm", meinte die Freundin nachdenklich. „Doch, doch! Oh, ich schäme mich so!" ,,Wann hast du denn den Brief eingeworfen?" SI. Michool Drogorio Oskar Holub STEYR, MICHAELERPLATZ 13 TELEFON 28 6 72 49
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