Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1974

Hans Hagen ging spät aus dem Betrieb heim. Seine Mitangestellten waren es schon gewohnt, daß der Buchhalter als Letzter aus der Fabrik fortging. Er schritt allein die lange Gartenmauer hinab. Wenn er den Fünferwagen nahm, kam er vielleid1t noch zum Abendessen zurecht. Es schwirrten noch soviele Zahlen durch seinen Kopf, daß ihm eine Viertelstunde Fußweg durch den Abend verlockend erschien. Als der Buchhalter in einen verlassenen Parkweg des Volksgartens einbog, wirbelte ein jäher Windstoß ein weißes Blatt Papier vor seinen Füßen empor. Es flatterte nid1t weit und blieb auf einer Bank liegen. Eine Straßenlampe hing darüber, und Hagen, der im Vorbeigehen einen achtlosen Blick auf das Papier warf, konnte lesen: ,, Liebster Schatz! " Nach einigen Schritten kehrte er mit einer froheren Laune um. Ach, ein Li ebesbrief, der verloren gegangen war! Er war wohl nun herrenlos. Hagen griff danach, und unter der nächsten Straßenlampe begann er zu lesen: ,, ... da wollte ich unbedingt noch mit Ihnen zusammentreffen, Fräulein Grete! Sie wissen ja, wieviel mir jede Stunde mit Ihnen wert ist. Ich habe zwei Kinokarten für das Orpheus gekauft - es fällt niemandem auf, wenn Sie zufällig neben mir zu sitzen kommen! Ich erwarte Sie wieder um zehn vor acht unter dem Ruhlanddenkmal. Kommen Sie bestimmt! Ihr Andreas ... " Eigentlich ein ganz gewöhnlicher Liebesbrief, dachte Hagen. Er schob das Papier absichtslos in seine Manteltasche und schritt etwas rascher a,us. Er dachte a·n s-eine Kinder, an Hans mit zwöU, luge mit fünfzehn und Margret mit siebzehn Ja,hren. Wie lange noch, und dann bekamen oder schrieben aiuch sie vielleicht solche Briefe! Der Buchhalter fühlte sich unruhig werden. Dann war es nötig, ,daß er sie nicht aus den Augen verlor. Wenn .es um die eigenen Kinder ging, wog auch der harmloseste Liebesbrief zentnerschwer 1 Zehn vor acht Uhr vor dem Ruhlanddenkmal ! Das stand doch ganz in seiner Nähe. Als er einen Blick auf die Uhr warf, erkannte er, daß er gerade noch zurecht kam, wenn er dort zufällig vorbeigehen wollte! Er schalt sich einen alten, neugierigen Narren - doch es war kaum ein Umweg - und heim kam er auf jeden Fall schon zu spät. Dort drüben stand richtig ein junger Mann! Eine Zigarette glomm auf. Nun fehlte noch sie! Wirklich, ihm gegenüber tauchte bereits eine zweite Gestalt auf. Das Fräulein hatte es eilig, der junge Mann fuhr erst herum, ais es schon hinter ihm stand. Hans Hagen verhielt unwillkürlich seinen Schritt. Was ging das ihn alles an? Er wollte nicht an den beiden vorT beikommen. Als er das Paar eilig hinter sich herankommen hörte, trat er an eine JöadJjag-Jtuihen Jagdhörner klingen im Blätterfall, Die Hunde leuten Und im Treiberlärm f lücnten Hasen. Fasane streicnen . Häher kreiscnen aufgescnreckt, D11mpfe Scnüsse hallen Und im Nebel stieben die Federn. Sdmepfen nuscnen ins Gestrüpp, Ein Ren klagt Iu-1 Fang der Meute. Angstgescnrei Und am Rotrock zerrt ein Dackel. Im Abenddämmer Verstummt das Jagen. Leises Blätterrauscnen Und ein Käuzcnen singt, Die Totenklage. Hannes Schmidhuber 37

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