Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1973

Kurzgeschid,,te vo11 ]o Ha1111es Rösler Horst ging zur Schneiderin. Er wollte am Heimweg das Faschingskostüm für Gisela abholen. Die Schneiderin war nicht da. Sie war in die Berge gefahren. Es gibt solche Schneiderinnen. Nach langem Läuten öffnete ihm eine a lte Putzfrau. Nein, Frau Grauert, die Schneiderin, sei nid1t daheim. Sie habe von heute auf morgen Ferien gemacht. Sie hätte nicht Lust, sich zum Krüppel zu arbeiten, habe sie gesagt, Nadel und f.aden hingeworfen und ab in die Berge. Nadel und Faden lagen noch da, genau auf dem für ein Faschingskostüm zugesd111ittenen Stoff seiner lieben Frau. Er kannte das Muster und die Farbe. Und Gisela wollte es heute abend auf dem Ball d,er Bälle an.ziehen, dem großen Faschingsfest der Stadt, wo alles da sein würde, was Rang und Namen hat. Wie ein Kind hatte sich Gisela auf diesen Ball gefreut. „Die Dame, der der Stoff gehört, war auch schon hier ", sagte die Putzfrau. ,,Meine Frau? " ,,Ja. Vor ei ner Stunde." ,, Wie nahm sie es auf?" „Sie spuckte beim Weggehen gegen das Türsdiild': Prompte Lieferung inner- ] alb 24 Stunden! " Horst wunderte sich. So kannte er ;:eine Frau gar nidit. Beim Heimgehen zerknitterte Horst wütend die teuren Ballkarten in seiner Tasd1e. Sie waren schwer genug zu bekommen gewe-sen. Er hatte viele Tage, Taxen, Taler und Telefongesprädie dafür aufwenden müssen! Das Kostüm war nidit fertig! Alles umsonst! Wie würde sid1 Gisela kränken, ärgern, weinen, weil sie den Stoff zu spät hingetragen hatte. Und da Horst seine Gisela iiber alles liebte, sann er nach, wie er ihre Verzweiflung mildern könnte. Er wird die Schuld auf sidi nehmen. Er wird sagen, er habe keine Karten bekommen. Er habe es zuerst vergessen, und dann sei er zu langsam gewesen. Darm würde sich ihr Zorn gegen ihn entfalten, und ein Zorn gegen den anderen ist leichter zu ertragen als die ohnmäditige Wut gegen sidi selbst. ,, Gisela ", sagte er darum beim Heimkommen kleinlaut und geknickt, ,,sdiilt midi nicht zu arg - ich komme mit leeren Händen. " ,, Was heißt das?" „ Ich ha,be keine Karten für den Ball der Bälle bekommen." ,,Du scherzt?" ,,Es ist die traurige Wahrheit, Liebste. Verzeih, wenn du kannst! Zuerst hatte ich es vergessen, und dann war idi zu langsam. Idi war heute bei Ponti us und Pilatus, alle Karten sind ausverkauft, jeder Tisdi ist vorbestellt ." Er erwartete einen Wutausbruch. Wenigstens einen Aufschrei. Aber nichts davon gesdiah. Gisela sagte sanft: ,, Kränk dich nidit, Horst. Mein Kostüm ist audi nid1t fertig-geworden. Ich hätte sowieso nicht mi tgehen können. " ,, Du bist mir nicht böse, Gisela ." „ Ich bin geradezu froh darüber", sagte Gisela, ,, stell dir vor, du hättest mit Mühe die teuren Karten beschafft und ich müßte dir jetzt sagen: Ich kann nicht hingehen, weil mein Kostüm nidit fertig ist? Das wäre dodi viel sdilimmer gewesen! " Horst schloß seine Frau glücklich in die Arme. „Was bist du dodi für ein präd1tiger Mensdi! Jetzt fühle idi midi erleichtert." Gisela nickte. ,,Erleichtere didi weiter und zieh deinen Rock aus. Wir madien es uns daheim gemiitlidi." Horst ging ins Schlafzinmter, seine Haussdmhe zu holen. Die Tür des Kleiderschrankes stand offen. Er traute seinen Augen nidit. Im Schrank über dem Bügel, fix und fertig zum Hineinsdilüpfen, hing Giselas Fasdiingskostüm. 45

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